DHS-Vorstandsmitglied Barbara Hansen mit Zitat "Menschen, die Suchtmittel konsumieren, beginnen den Konsum möglichst spät."

Zur 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestages formulieren die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) und ihre Mitglieder Erwartungen an eine Suchtpolitik, die die Verhinderung und Reduzierung von Schäden durch Suchtmittelkonsum und Nutzung abhängigkeitserzeugender Angebote sowie die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe zu Grundprinzipien erhebt.

Darum sollen alle politischen Maßnahmen, die sich auf den Suchtmittelkonsum und die Nutzung abhängigkeitserzeugender Angebote auswirken, im Einklang mit diesen vier grundlegenden Zielen der Suchtpolitik stehen:

  1. Weniger Menschen konsumieren Suchtmittel. Alle Menschen, die nicht konsumieren, werden in ihrer Entscheidung bestärkt, keine Suchtmittel zu sich zu nehmen.
  2. Menschen, die Suchtmittel konsumieren, beginnen den Konsum möglichst spät, wiesen möglichst risikoarme Konsummuster auf und konsumieren nur in Situationen und unter Bedingungen, in denen Risiken nicht zusätzlich erhöht werden.
  3. Konsument*innen, deren Suchtmittelkonsum zu Problemen führt, erhalten möglichst früh effektive Hilfen zur Reduzierung der mit dem Konsum verbundenen Risiken und Schäden.
  4. Konsument*innen, die ihren Konsum reduzieren oder beenden möchten, erhalten uneingeschränkten Zugang zu Beratung, Behandlung und Rehabilitation nach den jeweils aktuellen wissenschaftlichen Standards.

Alle vier Ziele gelten ebenso für die Nutzung abhängigkeitserzeugender Angebote, zum Beispiel im Bereich des Glücksspielens.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat in den vergangenen Jahren in zahlreichen Stellungnahmen und Positionspapieren mit Problemanzeigen auf Missstände hingewiesen und Empfehlungen sowie Forderungen an politische Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) formuliert.

Nach wie vor besteht in vielen Arbeitsbereichen dringender Handlungsbedarf, da die politischen Rahmenbedingungen in Deutschland von einer Verwirklichung der oben genannten Grundprinzipien und Ziele weit entfernt sind.

1. Die ungesicherte Finanzierung der Suchtberatung droht zur Bruchstelle in der Versorgung zu werden!

DHS-Forderung

Durch politische Entscheidungen sind verbindliche Strukturen für das Angebot Suchtberatung zu schaffen. Die Leistungserbringung der Suchthilfe muss durch eine verlässliche Finanzierungsgrundlage gesichert sein.

Die DHS hat im April 2019 mit dem »Notruf Suchtberatung – Stabile Finanzierung jetzt!« auf die prekäre Situation vieler Suchtberatungsstellen aufmerksam gemacht. Kern des Problems ist, dass die kommunal finanzierte Suchtberatung keine verbindliche und gesetzlich gesicherte Leistung ist und somit ihre Ausstattung auch von der Finanzlage der jeweiligen Kommune abhängig ist. Besonders problematisch für die Versorgung Suchtkranker ist dabei, dass Beratungsstellen häufig als erste Adresse für Hilfesuchende eine zentrale Koordinierungs- und Schnittstellenfunktion im hoch spezialisierten und vielgliedrigen Versorgungssystem für Menschen mit Suchtproblemen sind.

 

2. Erkrankte Menschen haben einen Versorgungsanspruch: Angebote der Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe müssen krisensicher sein!

DHS-Forderung

Abhängigkeit ist eine Erkrankung und die enorme Komplexität ist Teil ihrer Wesensart und ihrer Bewältigung. Jede Benachteiligung und Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankung muss überwunden werden. Der Versorgungsanspruch ist auch in Krisenzeiten bedingungslos.

Abhängigkeitserkrankungen sind komplexe Krankheiten, die neben den medizinisch-biologischen Ursachen und Folgen auch im psychischen und sozialen Bereich Ursachen und Folgen haben. Auch bei der Bewältigung der Erkrankung wirken biologisch-medizinische, psychische und soziale Faktoren interagierend mit. . Das Versorgungssystem für Menschen mit Suchtproblemen ist in der Lage, den ebenso vielschichtigen und individuellen Problemkonstellationen und Hilfebedarfen zu begegnen.

Die Sicherstellung der verschiedenen Versorgungsleistungen muss auch in der Krise gewährt sein. Die Corona-Pandemie zeigt, dass die Systemrelevanz der Angebote zur Beratung, Behandlung, Rehabilitation und die Sucht-Selbsthilfe sowie der mittelbar mit der Krankheit verknüpften Angebote im Sozial- und Gesundheitswesen ebenso selbstverständlich, wie die der Einrichtungen, Angebote und Leistungen der allgemeinen Gesundheitsversorgung.

 

3. Erfolgreiche Vorbeugung von Konsumschäden und Abhängigkeit integriert Verhaltens- und Verhältnisprävention!

DHS-Forderung

Eine abgestimmte und konsistente Gesamtstrategie der Suchtprävention integriert Verhaltens- und Verhältnisprävention in einem »Policy Mix«. Für die Erreichung der Ziele 1 und 2 müssen bewährte Maßnahmen eingesetzt werden und auch solche, deren Erfolg untersucht und nachgewiesen wurde. Viele europäische Nachbarn können hierbei mit erfolgreichen Beispielen dienen.

Die DHS fordert nunmehr seit Jahrzehnten eine bessere Verhältnisprävention in Deutschland und wird nicht müde, sich weiterhin für eine erfolgreiche Suchtprävention einzusetzen. Prävention wirkt direkt, wenn sie Einstellungen, Absichten und das Verhalten von Menschen so beeinflusst, dass Schäden durch Suchtmittelkonsum und abhängigem Verhalten ausbleiben (Verhaltensprävention).

Große Wirksamkeit der Vorbeugung von Schäden wurde auch für die Verhältnisprävention nachgewiesen. Sie gestaltet die Rahmenbedingungen zum Beispiel für Herstellung, Verkauf, Bewerbung und Besteuerung von legalen Suchtmitteln und abhängigkeitserzeugenden Angeboten wie dem Glücksspiel und bildet damit die Basis einer funktionierenden Verhaltensprävention. Die Potenziale der Verhältnisprävention sind in Deutschland weitgehend ungenutzt, wie internationale Vergleiche im Bereich der Alkohol- oder Tabakpolitik immer wieder aufzeigen – und in der Folge zählt Deutschland zu den Ländern mit besonders hohem Konsum, hoher Krankheitslast und enorm hohen gesellschaftlichen Kosten.

Gegner*innen von verhältnispräventiven Maßnahmen versuchen oft, die beiden Handlungsfelder der Verhaltensund Verhältnisprävention als Alternativen darzustellen. Wer aufklärt, braucht keine Angebots- und Marktregulierung, so die Argumentation. Dabei wurde auch nachgewiesen, dass die Maßnahmen sich eben nicht gegenseitig ausschließen, sondern deren Integration in eine kohärente Gesamtstrategie die größten Erfolge hinsichtlich einer wirksamen Suchtprävention und dem Vorbeugen von Konsumfolgen erzielt.

Während in den 2000er und 2010er Jahren die Wirksamkeit der Verhaltens- und Verhältnisprävention erschöpfend diskutiert und wissenschaftlich nachgewiesen wurde, verpasste es die Politik konsequent, nach diesen Erkenntnissen zu handeln.

 

4. Prävention der Folgen durch Glücksspielen in staatlicher Verantwortung!

DHS-Forderung

Mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag hat der Gesetzgeber für erhöhte Risiken und Suchtgefahren gesorgt. Nun ist er in der Verantwortung, den Spieler*innenschutz zu stärken, Präventionsmaßnahmen, Beratungs- und Behandlungsmaßnahmen sowie die Selbsthilfe auszubauen.

Der Staat hat seine Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen, den Jugendschutz zu stärken und durch die Glücksspielbehörden der Länder genau hinzuschauen, wenn Anbieter*innen Kinder und Jugendliche als Zielgruppe ansprechen.

Besorgniserregend sind die Ausweitung und Einführung digitaler Angebote, die die Entwicklung der Glücksspielproblematik in Deutschland zu vermehren drohen. Mit dem Inkrafttreten des neuen Glücksspielstaatsvertrags im Juli 2021 ist es Anbieter*innen von Glücksspielen nunmehr in allen Bundesländern erlaubt, Nutzer*innen Zugang zu verschaffen. Vor dem Hintergrund der beschleunigt fortschreitenden Digitalisierung ist ein hochdynamischer Markt zu erwarten, dessen oberstes Ziel es ist, mehr Kund*innen zu gewinnen, mehr Anreize zu setzen und mehr Angebote zu schaffen. Anbieter*innen von Glücksspielen erzielen den größten Teil ihrer Gewinne mit Erkrankten. Die Ausweitung des Angebotes und der Menge an Spielvorgängen zur Gewinnerzielung ist unvereinbar mit den gesundheitspolitischen Zielen der Suchtpolitik!

Glücksspielelemente finden zunehmend auch Eingang in Angebote, die ansonsten nicht in erster Linie als Glücksspiel ausgewiesen sind. Spiele-Apps, deren Zielgruppe Kinder- und Jugendliche sind, wurden und werden mit kostenpflichtigen Glücksspielelementen versehen.

 

5. Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker, die Eltern mit Kindern aufnehmen, benötigen ausreichende finanzielle Möglichkeiten

DHS-Forderung

In Form einer Komplexleistung muss für die Rehabilitation von abhängigkeitskranken Eltern mit ihren Kindern die Voraussetzung geschaffen werden, die Abhängigkeitserkrankung der Mutter oder des Vaters ganzheitlich zu behandeln und gleichzeitig Zugänge einzuräumen, um bestmöglich an der Prävention mitzuwirken und einer Entwicklung einer Suchterkrankung der Kinder gegenzusteuern.

In Deutschland ist davon auszugehen, dass circa 3 Millionen Kinder in Familien leben, in denen ein oder beide Elternteile von einer Abhängigkeitserkrankung betroffen sind. Etwa 10.000 Neugeborene leiden an Folgeschäden pränatalen Suchtmittelkonsums. Das Risiko für diese Kinder, selbst suchtmittelabhängig zu werden und/oder psychisch zu erkranken, ist bis zu sechs Mal höher als für Kinder aus Familien, die nicht von einer Abhängigkeitserkrankung betroffen sind.

Laut einer Umfrage des buss und des FVS gab es im Jahr 2017 circa 1.000 Kinder, die sich mit einem Elternteil in eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation begeben haben. Per Auftrag der Kostenträger steht die Behandlung der Abhängigkeitserkrankung in der medizinischen Rehabilitation im Vordergrund. Kinder von Suchtkranken werden als sogenannte »Begleitkinder« in die Rehabilitationseinrichtung aufgenommen. Der Begleitkindersatz bezieht sich auf die Kost, Logis und Betreuung während der Therapiezeiten der Eltern. Die Höhe der Vergütung ist je nach Kostenträger und Bundesland sehr unterschiedlich, definitiv aber zu geringfügig, denn die Herausforderungen, die sich für die Rehabilitationsklinik in der Behandlung von Eltern mit Kindern ergeben, sind immens. So brauchen Kinder ein Schutzraumkonzept, Eltern und Kinder bindungsbasierte Behandlungsangebote. Sie müssen – und es folgen lediglich Beispiele – mittels Psychoedukation geschult werden, um Defizite und Wissensnotstände auszugleichen. Es besteht ein Bedarf an Behandlungskonzepten zur Aufnahme von Schwangeren, entsprechend auch Expertisen hinsichtlich der Diagnostik und Betreuung von Kindern mit FASD, darüber hinaus im Bereich Trauma-, Heil- und Intensivpädagogik. Um all dem gerecht zu werden, benötigen die Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation, die Mütter und/oder Väter mit Kindern aufnehmen, die ausreichenden finanziellen Möglichkeiten einer eltern-, kindgerechten Ausgestaltung der Rehabilitation im Sinne eines selektiv-präventiven mehrgenerationalen Angebots.

 

6. Zur politischen Entscheidung über eine Beendigung der Strafverfolgung von Cannabis-Konsument*innen und einem regulierten Cannabismarkt ist eine Enquete-Kommission die angemessene Plattform dieser Grundsatzdebatte

DHS-Forderung

Die DHS fordert die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Cannabispolitik durch den Deutschen Bundestag. Zudem soll die begrenzte, kontrollierte und wissenschaftlich begleitete Durchführung von Modell-Projekten ermöglicht werden, die Alternativen zur derzeitigen Verbotspraxis erforschen und Möglichkeiten der kontrollierten Abgabe erproben.

Im Bereich der Cannabispolitik rücken Einstellungen in Bevölkerung und Politik sowie internationaler Wandel eine Alternative zur Strafverfolgung von Cannabiskonsument*innen in den Bereich des politisch möglichen. Eine politische Entscheidung in dieser Frage ist folgenreich sowohl bei einer Veränderung als auch der Beibehaltung aktueller Rechtslage und ‑durchsetzung.

Nach Auffassung der DHS ist dringend angezeigt, dass eine politische Veränderung die Expertise der Versorgungspraxis, der Verbände und der Forschung einbinden sollte. Um weitreichende Änderungen in der Cannabispolitik in ihrer angemessenen thematischen Breite zu diskutieren, sind viele Akteur*innen und Stakeholder an der Debatte zu beteiligen. Die DHS sieht einen angemessenen Rahmen für die Klärung dieser Fragen nach wie vor in einer Enquete-Kommission des Bundestages unter Beteiligung der relevanten Stakeholder. Einen besonders wesentlichen Aspekt dieser Frage sieht die DHS im Schutz und bei den Hilfen junger Menschen.

 

7. Beteiligung der Versorgungspraxis, der Verbände und der Forschung in einem Drogen- und Suchtrat

DHS-Forderung

Die Suchtpolitik der 20. Wahlperiode sollte einen Drogen- und Suchtrat einrichten und Vertreter*innen der Versorgungspraxis, aus Verbänden und der Forschung einbeziehen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erwartet, dass für neue Maßnahmen und Gesetze der Suchtpolitik sichergestellt wird, ob sie im Einklang mit den eingangs genannten Grundprinzipien und Zielen der Suchtpolitik vereinbar sind und wie sie zur Zielerreichung beitragen.

Dafür sollten politische Entscheidungsträger*innen in transparenten und ergebnisoffenen Diskursen die Expertise von Praxis und Wissenschaft einbeziehen. Die DHS fordert die erneute Einrichtung eines Drogen- und Suchtrates, um verbindliche und strukturierte Einbindung zu gewährleisten.

 

Suchtpolitische Forderungen der DHS (PDF)