Blick auf Europaparlamentsgebäude vor dessen Eingang himmelwärts.

Das Europäische Parlament steht kurz vor der Abstimmung über einen Bericht über nichtübertragbare Krankheiten und psychische Gesundheit. Der kompromittierte Text des Berichts offenbart jedoch einen anhaltenden Mangel an Entschlossenheit im Parlament, das kritische Thema des Alkoholkonsums anzugehen. In diesem Kommentar gibt Alessandro Gallina, Policy Manager bei der European Public Health Alliance (EPHA), einen Überblick über die derzeitige Haltung des Europäischen Parlaments zur Krebsprävention und die Bemühungen, einen der Risikofaktoren – den Alkoholkonsum – in der komplexen Landschaft der Einmischung der Alkoholindustrie zu bekämpfen.

Mit dem Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung und seiner Betonung der Prävention ist die Alkoholpolitik wieder auf die Tagesordnung gerückt

Der Start des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung (EBCP) im Februar 2021 markiert einen bedeutenden Wandel in der Art und Weise, wie Krebs in Europa behandelt wird. Im Laufe der Jahre hat sich der Umgang mit Krebs in Europa erheblich weiterentwickelt. Dies spiegelt Veränderungen in unserem Verständnis der Krankheit, Fortschritte in der Medizintechnik und wichtige Verschiebungen in den Prioritäten der öffentlichen Gesundheit wider. In der Vergangenheit konzentrierten sich die europäischen Initiativen hauptsächlich auf Krebsfrüherkennung, ‑behandlung und ‑forschung, wobei sich die nationalen und regionalen Maßnahmen in Ansatz und Umfang unterschieden.

Alkoholpolitik nimmt Schlüsselrolle bei Krebsbekämpfung ein

EU-Kommission bei der Präsentierung des Krebsbekämpfungsplans

Die Europäische Kommission hat den »Europe's Beating Cancer Plan« ins Leben gerufen. Der ehrgeizige Plan zielt darauf ab, die Krebsbelastung in der Europäischen Union für Patient*innen, ihre Familien und die Gesundheitssysteme zu reduzieren. Er wird krebsbedingte Ungleichheiten zwischen und innerhalb der EU-Mitgliedstaaten mit Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung der Bemühungen der Mitgliedstaaten angehen. Prävention im Allgemeinen und alkoholpolitische Lösungen im Besonderen sind zentrale Elemente bei den Bemühungen, Krebs in der EU zu besiegen. Europas Plan zur Krebsbekämpfung enthält das Ziel, den Pro-Kopf-Alkoholkonsum bis 2025 um – mindestens – 10 % zu senken, wie es die Länder bereits 2015 bei der Verabschiedung der Agenda 2030 und der Ziele für nachhaltige Entwicklung vereinbart hatten.

Der Sonderausschuss des Europäischen Parlaments zur Krebsbekämpfung (BECA) stellte im Jahr 2020 fest, dass diese Initiativen häufig hinter den Erwartungen zurückbleiben, vor allem aufgrund ihres begrenzten Anwendungsbereichs und ihrer unterschiedlichen Wirksamkeit in den verschiedenen Regionen, was die Notwendigkeit einer umfassenden Strategie unterstreicht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten mehr als 40 % aller Krebsfälle verhindert werden, wenn die gemeinsamen Risikofaktoren angegangen würden. Daher wurde die Aufnahme der Prävention als zentrale Säule in den Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung von der European Public Health Alliance (EPHA) und anderen Akteuren im Bereich der öffentlichen Gesundheit in Europa begrüßt.

Der Europäische Plan zur Krebsbekämpfung ist mit einem beträchtlichen Budget von 4 Milliarden Euro die ehrgeizigste Krebsinitiative in Europa, sowohl hinsichtlich des finanziellen Engagements als auch des ganzheitlichen Ansatzes zur Krebsbekämpfung, einschließlich der Prävention. Der Plan konzentriert sich auf eine Reihe bekannter Risikofaktoren, zu denen auch die nachgewiesene krebsfördernde Wirkung des Alkoholkonsums gehört. Im Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung wird Alkoholkonsum jedoch als »schädlicher Alkoholkonsum« definiert, ein Begriff, der bewusst vage gehalten und schwer zu quantifizieren ist, was zu Problemen bei der Umsetzung von Maßnahmen und der Messung ihrer Wirksamkeit führt. Diese Ungenauigkeit entspricht der Sichtweise der Industrie, die die Verantwortung für Konsumentscheidungen und ‑gewohnheiten, zum Beispiel den übermäßigen Alkoholkonsum gefährdeter Gruppen, auf die Einzelnen abwälzt und die Notwendigkeit von Regulierungsmaßnahmen auf Bevölkerungsebene herunterspielt. Nichtsdestotrotz schlägt der Plan eine Reihe wichtiger Maßnahmen im Zusammenhang mit den gesundheitlichen Auswirkungen alkoholischer Erzeugnisse vor. Dazu gehören:

Herausforderungen bei der Umsetzung der Alkoholpolitik und Einflussnahme der Industrie

Dies ist ein bedeutender politischer Wandel, insbesondere wenn man bedenkt, dass die EU-Alkoholstrategie, die von 2006 bis 2012 in Kraft war, die einzige in der Geschichte der EU-Politik ist, die trotz zahlreicher Forderungen von Interessengruppen keinen direkten Nachfolger hat. Dieser Wandel wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass die Europäische Kommission seit 2017 in Bezug auf die Kennzeichnung alkoholischer Erzeugnisse untätig geblieben ist. Damals erklärte die Kommission, es gebe »keine objektiven Gründe, die das Fehlen von Informationen auf den Etiketten alkoholischer Getränke rechtfertigen«. Als Reaktion auf diese Haltung schlug der Sektor der alkoholischen Getränke im März 2018 ein Selbstregulierungssystem vor. Dieser Schritt der Industrie zeigt die komplexe und oft bittere Realität der europäischen Gesundheitspolitik, die tief verwurzelt ist in klaren Interessenkonflikten zwischen privatem Profit und öffentlichem Wohl. Die Maßnahmen des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung zielen darauf ab, dieses Paradigma zu durchbrechen, indem eine stärkere und unabhängige Regulierung gefördert wird.

Trotz dieser ehrgeizigen Ziele hat sich die Umsetzung dieser lang erwarteten Maßnahmen des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung verzögert und ist umstritten. Die Vorbereitungsarbeiten sind im Gange, einschließlich einer Folgenabschätzung, die derzeit durchgeführt wird und eine »umfassende Evidenz- und Datenerhebung« einschließt, obwohl die unterschiedlichen Auffassungen der Interessengruppen über die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit von On-Label-Listen bereits bekannt sind. Einige ziehen es vor, diese Informationen off-label über QR-Codes, Apps oder Websites bereitzustellen, während andere, einschließlich der EPHA und unserer Mitglieder und Partner, argumentieren, dass alkoholische Getränke nicht anders behandelt werden sollten als andere Lebensmittel und Getränke. Diese Ausnahmeregelung wird von vielen als reines Ablenkungsmanöver betrachtet, da es keinen objektiven Grund gibt, alkoholische Getränke anders zu behandeln als andere Konsumgüter. Die Debatte über Alkoholkennzeichnung und Gesundheitswarnungen spiegelt die allgemeinen Spannungen und Herausforderungen in der Gesundheitspolitik wider, die nicht nur die Kommission, sondern auch das Parlament betreffen. Im Jahr 2002 verabschiedete das Europäische Parlament eine nicht bindende Entschließung zu Alkohol als Krebsrisikofaktor. Ursprünglich wurde in der Entschließung der Alkoholkonsum als Krebsrisikofaktor beschrieben, wobei die Weltgesundheitsorganisation die Auffassung vertrat, dass es kein sicheres Konsumniveau gibt. Mehrere Abgeordnete schlugen jedoch Änderungen vor, um die Entschließung so umzuformulieren, dass sie sich ausschließlich auf den »schädlichen Konsum« konzentriert und von der Empfehlung, Gesundheitswarnungen auf den Etiketten alkoholischer Getränke anzubringen, Abstand nimmt.

Welt­­gesundheits­­organisation: Jeder Alkoholkonsum ist ungesund

Einzelner Tropfen hängt aus einer Flaschenöffnung.

Die mit dem Alkoholkonsum verbundenen Risiken und Schäden wurden im Laufe der Jahre systematisch evaluiert und sind gut dokumentiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in der Zeitschrift »The Lancet Public Health« eine Erklärung veröffentlicht: Es gibt keine sichere Menge Alkohol, die die Gesundheit nicht beeinträchtigt.

Laufende Debatten und künftige Ausrichtung der EU-Alkoholpolitik

Während die Debatte über die Kennzeichnung von Alkohol und gesundheitsbezogene Warnhinweise in einer Sackgasse stecken geblieben ist, hat das Thema durch die jüngsten Initiativen des neu gegründeten Unterausschusses für Gesundheit (SANT) des Europäischen Parlaments wieder Eingang in die Diskussionen über die europäische Gesundheitspolitik gefunden. Zu den ersten Aktivitäten des Unterausschusses gehörte eine Reihe von Initiativberichten (INI) über nichtübertragbare Krankheiten und psychische Gesundheit. Der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments (ENVI) stimmte den Kompromissänderungsanträgen zu diesen Berichten, die auch alkoholbedingte Schäden einschließen, zu. Während die Berichtsentwürfe Schlüsselelemente ansprechen, die für eine umfassende und effektive europäische Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten entscheidend sind, wie zum Beispiel gesundheitliche Chancengleichheit, soziale und wirtschaftliche Determinanten von Gesundheit, Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie Datenqualität und ‑verfügbarkeit, zeigte das Parlament erneut mangelnde Entschlossenheit bei der Behandlung des Alkoholkonsums. Trotz eines direkten Verweises auf den WHO-Bericht, in dem festgestellt wird, dass es kein sicheres Maß an Alkoholkonsum gibt, verpasste das Parlament die Gelegenheit, den Begriff »Alkoholkonsum« in Übereinstimmung mit der WHO-Position zu verwenden. Stattdessen wählte es den Begriff »schädlicher Alkoholkonsum«. Dies war ein Streitpunkt, auf den die WHO Europa und die die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) in ihrer gemeinsamen Erklärung an das Europäische Parlament vor der Abstimmung über die Berichte im ENVI-Ausschuss im vergangenen November hingewiesen hatten.

Eindringliche Erklärung der WHO an das Europäische Parlament zum Zusammenhang zwischen Alkohol und Krebs

Weinflaschen mit Totenkopfemblemen. Darüber der Text: Alkohol ist krebserregend. Es gibt keine sichere Menge - außer Null.

Gemeinsame Erklärung des WHO-Regionaldirektors für Europa, Dr. Hans Henri P. Kluge, und der Direktorin der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC), Dr. Elisabete Weiderpass, zur Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen Alkohol und Krebs.

Die Initiative des SANT-Unterausschusses ist lobenswert, sollte aber als ein Schritt zur Erreichung der umfassenderen Ziele des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung gesehen werden. EPHA hofft, dass diese Initiative nicht nur die Umsetzung einer breiteren Präventionspolitik, die alle nichtübertragbaren Krankheiten umfasst, stärkt, sondern auch als Grundlage für eine neue europäische Alkoholstrategie dienen wird. Es besteht jedoch nach wie vor eine deutliche Lücke in der effektiven Kommunikation über Alkohol als Krebsrisikofaktor, die von diesen Zielen abzuweichen scheint. Wir hoffen, dass die Mitglieder des Parlaments diese Lücke vor der entscheidenden Plenarabstimmung im Dezember schließen und eine klare und deutliche Botschaft an andere europäische Institutionen senden, die in der Vergangenheit zu viel Nachsicht gegenüber Industrien gezeigt haben, die mit gesundheitlichen Risikofaktoren in Verbindung gebracht werden.

Gesundheitsaktivist*innen fordern von der Europäischen Kommission Engagement

Gesundheitsexpert*innen, einschließlich der EPHA, fordern ein erneuertes Engagement der Europäischen Kommission. Dieses Engagement ist für eine transparente, evidenzbasierte Kommunikation zum Thema Alkoholkonsum unerlässlich und steht im Einklang mit den allgemeinen Zielen des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung und den Initiativen im Bereich der öffentlichen Gesundheit in der gesamten EU. Unsere laufenden Bemühungen zielen darauf ab, die politische Sprache auf der Grundlage solider wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verbessern, um die Bedeutung dieses Themas im breiteren Kontext der Krebsbekämpfung und der Prävention nichtübertragbarer Krankheiten hervorzuheben.

Unser Gastautor

Porträt von Alessandro Gallina.

Dr. Alessandro Gallina ist Policy Manager für die Prävention nichtübertragbarer Krankheiten bei der European Public Health Alliance (EPHA) in Brüssel, Belgien. Er promovierte in Medizin am Karolinska-Institut (Schweden). Außerdem absolvierte er ein Blue Book Traineeship in der Generaldirektion Gesundheit (DG SANTE) der Europäischen Kommission (Luxemburg). In seiner täglichen Arbeit konzentriert er sich auf die Förderung wirksamer und gerechter politischer Maßnahmen zur Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten durch einen wissenschaftlich fundierten Ansatz.

Quelle: MOVENDI International

Übersetzt mit www.DeepL.com