Mann und Frau blicken im Supermarkt suchend auf eine Weinflasche. Dazu der Text: Zutaten? Kalorien? Gesundheitsrisiken? Fehlanzeige! Die Alkoholindustrie lässt ihre Kund*innen im Ungewissen. Sie steht halt mehr auf Quiz.

Die in Europa einzigartig hohen alkoholbedingten Schäden sind zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass die gesetzlichen Bestimmungen die Bürger*innen nicht vor den Schäden schützen, die durch kommerzielle Aktivitäten verursacht werden. Und das gilt nicht nur für Alkohol.

Gesundheit beginnt nicht in Kliniken oder Krankenhäusern, ebenso wenig wie Gerechtigkeit vor Gericht oder Frieden auf dem Schlachtfeld», schrieb WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus im März in der Zeitschrift Lancet. «Gesundheit beginnt vielmehr bei den Bedingungen, unter denen wir geboren werden und aufwachsen, in den Schulen, auf den Straßen, am Arbeitsplatz, in den Wohnungen, auf den Märkten, in den Wasserquellen, in den Küchen und in der Luft, die wir atmen».
Wir müssen anerkennen, dass kommerzielle Unternehmen eine wichtige Rolle für die öffentliche Gesundheit spielen«, sagte der Europaabgeordnete Nicolás Gonzalez Casares bei der Eröffnung der Veranstaltung, die er gemeinsam mit den Europaabgeordneten Erik Poulsen und Michele Rivasi organisierte. »Wir müssen dieses Problem direkt angehen«.

Erik Poulsen unterstrich die Bedeutung der Arbeit des SANT-Unterausschusses für öffentliche Gesundheit, dessen Mitglied er ist. Er erinnerte die Teilnehmer*innen an einen bevorstehenden SANT-Bericht über die Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten, der sich derzeit im Entwurfsstadium befinde.

Titelseite der Broschüre 'Alkoholkennzeichnung und Gesundheitswarnungen'.

Genau das sollten die 150 Teilnehmer*innen einer von Lancet unterstützten Eurocare-Veranstaltung tun, indem sie gefragt wurden: Begünstigt die EU eine industrielle Epidemie, weil sie es versäumt, kommerzielle Interessen zu regulieren? Um diese Frage zu beantworten, wurden die Teilnehmer*innen zunächst mit dem Konzept der kommerziellen Gesundheitsdeterminanten (CDoH) vertraut gemacht. Das Fehlen einer adäquaten Regelung für die Kennzeichnung von Alkohol in der EU ist ein eklatantes Beispiel, das Eurocare mit der Veröffentlichung eines neuen Positionspapiers zu diesem Thema aufgegriffen hat.

Fördert die EU eine industrielle Epidemie?

Zweiteiliges Foto: links Blick in den Konferenzsaal aufs Podium aus Teilnehmerperspektive, rechts Eurocare-Positionspapier zur Tagung auf Konferenztisch.

Auf Einladung des Europaabgeordneten Nicolás González Casaresa organisierte die Europäische Allianz für Alkoholpolitik Eurocare mit Unterstützung von The Lancet Ende Juni eine Konferenz im Europäischen Parlament mit dem Titel: »Fördert die EU eine industrielle Epidemie?«. Themen waren die kommerziellen Determinanten von Gesundheit, Alkoholetikettierung und Gesundheitswarnungen sowie die damit verbundenen Interessenkonflikte.

Gesundheit ist nicht medizinische Versorgung

Bei Gesundheit denken wir oft an Ärzt*innen, Krankenschwestern und Krankenhäuser, aber sie sind das, was passiert, wenn es mit der Gesundheit nicht klappt«, sagte Dr. Nason Maani von der Abteilung für globale Gesundheitspolitik an der Universität Edinburgh und erläuterte die weiter gefassten Ursprünge von Gesundheit und die Ursachen von Krankheit.

Tabakkonsum sei keine Ausnahme, wie viele glaubten. Andere gesundheitsschädliche Industrien wie ungesunde Lebensmittel, fossile Brennstoffe, Glücksspiel und die Waffenindustrie verfolgten ein ähnliches Geschäftsmodell.

Bei den nichtübertragbaren Krankheiten müssen wir vorankommen. Wir müssen den Tabak-Exzeptionalismus überwinden«, sagte Professor Anna Gilmore, Professorin für öffentliche Gesundheit und Leiterin der Tobacco Control Research Group an der Universität Bath, in Anlehnung an einen im Lancet veröffentlichten Artikel.

Eine der wichtigsten Lehren aus der Betrachtung der kommerziellen Gesundheitsdeterminanten im weiteren Sinne als systemisches Problem sei, dass freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie nicht funktionierten. Die kommerziellen Ziele der Unternehmen in diesen Bereichen stehen im Widerspruch zur Verbesserung der Gesundheit.

Definition und Konzeptualisierung der kommerziellen Determinanten von Gesundheit

Tankstelle, qualmende Zigarette, Junk Food mit Cola und Bierabfüllanlage symbolisieren die vier Industriezweige, die für ein Drittel der weltweiten Todesfälle verantwortlich sind

Obwohl kommerzielle Unternehmen einen positiven Beitrag zu Gesundheit und Gesellschaft leisten können, gibt es immer mehr Belege dafür, dass die Produkte und Praktiken einiger kommerzieller Akteure – insbesondere der größten transnationalen Unternehmen – für steigende Raten vermeidbarer Krankheiten, für die Schädigung des Planeten und für soziale und gesundheitliche Ungleichheit verantwortlich sind; diese Probleme werden zunehmend als kommerzielle Determinanten der Gesundheit bezeichnet.

Kampf gegen kommerzielle Interessen

Die EU sei eines der größten Lobbying-Zentren der Welt, vielleicht sogar das zweitgrößte nach Washington DC, erfuhren die Teilnehmer*innen von Koen Roovers vom Büro des Europäischen Bürgerbeauftragten, das Beschwerden über Missstände in der Verwaltung untersucht und sich mit allgemeineren systemischen Fragen befasst. »Der Bürgerbeauftragte ist der Ort, an dem der Schuh drückt, wenn es um die kommerziellen Determinanten von Gesundheit geht«, sagte Roovers.

Kommerzielle Interessen mischen sich ständig in den politischen Entscheidungsprozess der EU ein, bei dem Gesetzesvorschläge zunächst von der Europäischen Kommission ausgearbeitet werden, bevor sie vom EU-Rat und dem Europäischen Parlament verabschiedet werden.

Es ist nicht überraschend, dass Lobbyist*innen versuchen, den Vorschlag der Kommission zu beeinflussen, bevor er vorgelegt wird«, so Roovers.

Der Bürgerbeauftragte hat es schwer, gegen diese Einmischung anzukämpfen. »Wir sind eine kleine Institution mit einem großen Aufgabenbereich«, sagt er. Er hat derzeit 75 Mitarbeiter*innen und erwartet, dass in den kommenden Jahren »einige mehr«, dazukommen. Allein in der Europäischen Kommission arbeiten 32.000 Menschen für sie. »Wir sind ziemlich beschäftigt«, so Roovers. »Organisationen der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen gehören zu unseren häufigsten Beschwerdeführern.«

Aber nicht nur auf EU-Ebene, auch auf nationaler Ebene wird Druck ausgeübt.

Etwa 20 Minuten nachdem wir einen Alkoholplan veröffentlicht hatten, erhielten wir ein Feedback von der Alkoholindustrie«, sagt Tina Van Havere, Beraterin im Kabinett des belgischen Gesundheitsministers Frank Vandenbroucke. »Wir müssen die Politik vor der Einmischung der Industrie schützen. Das ist ganz klar«.

Die Industrie sieht das anders. »Wir werden uns darauf einigen müssen, nicht einer Meinung zu sein«.

Kommerzielle Einflussnahme ist weltweit ein Hindernis für das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Alkoholkonsum in Europa bis 2025 um 10 % zu senken.

Es gibt so viele Möglichkeiten, den Prozess zu beeinflussen«, erklärt Dr. Carina Ferreira-Borges, Programmleiterin für Alkohol, illegale Drogen und Gesundheit im Strafvollzug beim WHO-Regionalbüro für Europa. »Minister*nnen haben ihren Posten wegen des Widerstands der Alkoholindustrie verloren«.

Vom Tabak lernen

Wie erfolgreich die Verzögerungstaktik der Industrie sein kann, zeigt der Kampf um wirksame bildliche Warnhinweise auf Tabakprodukten, denn die ersten zaghaften Warnhinweise tauchten bereits 1966 in Nordamerika auf. Rob Cunningham, Senior Policy Analyst bei der Kanadischen Krebsgesellschaft, skizzierte die Wendungen, die sich seither ereignet haben. Doch der lange Kampf habe sich gelohnt, denn »die Verpackung ist das perfekte Mittel, um die Öffentlichkeit aufzuklären«. Einfarbige Verpackungen werden immer mehr zur Norm, und im nächsten Jahr wird Kanada Warnhinweise auf jeder Zigarette anbringen.

Warnhinweise sind eine gute und kostengünstige Möglichkeit, die Bürger*innen über die schädlichen Auswirkungen des Alkoholkonsums zu informieren«, sagt Professor Karine Galopel Morvan von der Universität Stirling.

Aber was macht Warnhinweise wirksam? Wichtig ist die Größe. Auch die Platzierung spielt eine Rolle, denn Warnhinweise sind am wirksamsten, wenn sie sich am oberen Rand des Etiketts befinden. Auch die Einbeziehung von Bildelementen, seien es Piktogramme oder Fotos, ist hilfreich. Gleichzeitig müssen die Botschaften sehr spezifisch und klar sein, wobei etwa ein Dutzend Botschaften rotieren, um sie »frisch« zu halten. Die Warnung ist auch am wirksamsten, wenn sie mit einer positiven Botschaft zum Aufhören kombiniert wird.

Die halbherzigen freiwilligen Bemühungen der Alkoholindustrie zur Kennzeichnung von Alkohol sind vorhersehbar schlecht, da sie dem Verkaufsziel zuwiderlaufen. Sie verwenden QR-Codes, die jede*r Interessierte mit seinem Handy einscannen muss. Das bedeutet, dass kaum jemand den Inhalt zu Gesicht bekommt.

Warum muss eine Cola-Dose mit Informationen versehen sein, ein Fertigmix aus Whisky und Cola aber nicht?«, fragte Camille Perrin von der europäischen Verbraucherorganisation BEUC und zeigte ein Video, das die Unzuverlässigkeit der selten verwendeten QR-Codes demonstrierte.

Ein kommerzieller Sieg?

Hat die kommerzielle Lobby bei der Alkoholkennzeichnung gesiegt, wurde das Podium in der Schlusssitzung gefragt? Nein, nicht im Falle Irlands, sagte Sheila Gilheany, Geschäftsführerin von Alcohol Action Ireland und Vorstandsmitglied von Eurocare. Irland treibe die Kennzeichnung aus eigener Kraft voran, und das irische Gesetz durchlaufe derzeit die Welthandelsorganisation. Auch dort sind kommerzielle Interessen am Werk.

Die Einwände der Mitgliedsstaaten kommen nicht wirklich von den Mitgliedsstaaten, sondern von der Alkoholindustrie«, sagt sie.

Die Kennzeichnung von Alkohol wäre ein entscheidender Schritt zur Information der Verbraucher*innen, sagte Sıla Gürbüz, die die Position der European Medical Students' Federation vertrat.

Kennzeichnung ist eine Frage der Fairness«, sagt Nikhil Gorkani, Vorsitzender von Eurocares internationaler Expert*innengruppe für Kennzeichnung. Doch auf EU-Ebene scheint die lange aufgeschobene Alkoholkennzeichnung wieder einmal ins Stocken zu geraten. Sie wurde im Februar 2021 als Teil des Plans der Kommission zur Krebsbekämpfung auf die EU-Gesetzgebungsagenda gesetzt, aber die Kommission ist bereits acht Monate mit der Vorlage eines Vorschlags in Verzug. Damit hat sie die Chance verpasst, das Thema noch in der laufenden Legislaturperiode zu behandeln. Gorkani sagte, er sei dennoch »hoffnungsvoll«, dass die EU dem irischen Beispiel bei der Kennzeichnung folgen werde.

Um sicherzustellen, dass Alkohol tatsächlich gekennzeichnet wird, müssen sowohl der politische Entscheidungsprozess als auch die Fakten unter die Lupe genommen werden. Eine Beschwerde beim Europäischen Bürgerbeauftragten sei nicht ausgeschlossen, sagte die Generalsekretärin von Eurocare, Florence Berteletti.

Wir fordern die Mitglieder des Europäischen Parlaments auf, offen zu legen, mit wem sie sich treffen«, sagte sie. »So können wir und die Wähler*innen sehen, von wem sie beeinflusst werden. Wenn sich Abgeordnete mit 20 oder 50 Industrievertreter*innen treffen und dann nur einmal mit uns, ist das nicht genug«.

Kommerzielle Interessen setzen erhebliche finanzielle Mittel ein, um die Politik zu beeinflussen, oft mit Erfolg. Im Gegensatz dazu stehen den Interessenvertreter*innen des Gesundheitswesens nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Gesundheitsexpert*innen und diejenigen, die den Lobbyprozess beobachten, können jedoch mit der Zeit dafür sorgen, dass die politischen Entscheidungsträger*innen die Fakten sehen, die die Politik bestimmen sollten. Tabak hat bereits gezeigt, dass dies den Interessen der europäischen Bürger*innen besser dient. Tabak ist keine Ausnahme, sondern ein Beispiel, das politische Entscheidungsträger*innen sorgfältig studieren und auf andere Sektoren übertragen sollten.

Quelle: EuroCare

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