Autor*innen: James Morris, Cassandra L. Boness, Robyn Burton
Zitierung: James Morris, Cassandra L. Boness, Robyn Burton, (Mis)understanding alcohol use disorder: Making the case for a public health first approach, Drug and Alcohol Dependence, Volume 253, 2023, 111019, ISSN 0376-8716, https://doi.org/10.1016/j.drugalcdep.2023.111019.
Quelle: Drug and Alcohol Dependence
Datum der Veröffentlichung: 10. November 2023
Abstrakt
Der Begriff »Alkoholkonsumstörung« wird in verschiedenen aktuellen Konzepten zur Erkennung, Behandlung und Prävention von Problemen im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum verwendet. Diese Konzepte umfassen sowohl diagnostische Klassifikationen als auch umfassendere Rahmenkonzepte für Politik und Praxis. Die derzeitigen Konzepte für Alkoholkonsumstörungen unterliegen jedoch zahlreichen Spannungen und Einschränkungen, wenn es darum geht, die komplexe und heterogene Natur von Alkoholproblemen zu erfassen und darauf zu reagieren. Darüber hinaus weicht das öffentliche Verständnis von Alkoholkonsumstörungen stark von den fachlichen Konzepten ab und ist nach wie vor in ein »Alkoholismus«-Muster eingebettet, in dem stereotype Krankheitsmodelle mit hohen Kosten für Prävention und »Genesung« verbunden sind.
Das Fortbestehen eines problematischen »Alkoholismus«-Paradigmas spiegelt das Zusammenwirken mehrerer Kräfte wider, darunter die kognitive Anziehungskraft des Reduktionismus, Motive zur Stigmatisierung des »Anderen« und eine Überbetonung der Alkoholkonsumstörung als individuelles biomedizinisches Problem. Die falsche öffentliche Wahrnehmung von Alkoholkonsumstörungen als eine Sache des Individuums, der Natur des Individuums und falsch verstandene Vorstellungen von Verantwortung und Kontrolle wurden durch die Interessen der Industrie und den Aufstieg der Neurowissenschaften und der Genetik verstärkt, was wiederum die Aufmerksamkeit von der Bedeutung umweltbedingter und kommerzieller Determinanten der Gesundheit und der Wirksamkeit unzureichend genutzter öffentlicher Gesundheitsmaßnahmen ablenkt.
Die Autor*innen fordern ein breites Spektrum von Akteur*innen auf, die Bemühungen zu unterstützen, Forschung, Politik und Behandlung von Alkoholkonsumstörungen vorrangig im Bereich der öffentlichen Gesundheit voranzutreiben, um signifikante Fortschritte bei der Prävention und Behandlung von Alkoholkonsumstörungen zu erzielen. Sie sprechen eine Reihe von Empfehlungen aus, um das öffentliche Verständnis und die wissenschaftlichen Grenzen von Alkoholkonsumstörungen und ihrer Behandlung zu verändern.
1. Einleitung
Alkoholkonsumstörung hat sich als zeitgenössischer Begriff herausgebildet, der verschiedene Konzeptualisierungen für Probleme im Zusammenhang mit Alkoholkonsum widerspiegelt, obwohl die Laiendiskurse über Alkoholprobleme weitgehend nicht mit den Konzeptualisierungen der Alkoholkonsumstörung übereinstimmen (Morris et al., 2022). Im Diagnostischen und Statistischen Manual für Psychische Störungen, Fünfte Ausgabe (DSM-5), wird die Alkoholkonsumstörung beispielsweise als leicht, mittelschwer oder schwer eingestuft, je nachdem, wie viele Kriterien in den vier konzeptionellen Symptomclustern (beeinträchtigte Kontrolle, soziale Beeinträchtigung, riskanter Konsum und pharmakologische Kriterien) erfüllt sind (APA, 2013; Seite 483 – 484) (American Psychiatric Association, 2013). Die aktuelle 11. Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation unterscheidet zwischen schädlichem und abhängigem Alkoholkonsum als unterschiedliche Kategorien der Alkoholkonsumstörung und enthält eine separate Nicht-Alkoholkonsumstörung-Kategorie des gefährlichen Konsums (WHO, 2018). Das National Institute of Health and Care Excellence (NICE) in Großbritannien verwendet Alkoholkonsumstörung als Oberbegriff, der im Wesentlichen alle ICD-11-Kategorien einschließlich des riskanten Konsums umfasst (NICE, 2011). Dementsprechend entspricht der Ansatz des NICE für die Alkoholkonsumstörung im Großen und Ganzen der ordinalen Kategorisierung des Alcohol Use Disorder Identification Test (AUDIT) (Babor et al., 2001) (das heißt unterschiedliche Cut Scores, die auf ein zunehmendes Risiko vom risikoärmeren Konsum bis hin zur wahrscheinlichen Abhängigkeit hinweisen), obwohl das NICE auch die Schweregrade der Abhängigkeit identifiziert. Die Alkoholkonsumstörung als Begriff oder Etikett steht also für unterschiedliche Konzeptualisierungen, mit denen versucht wird, Alkoholprobleme zu erfassen.
Unterschiedliche Ansätze zur Operationalisierung der Alkoholkonsumstörung spiegeln sowohl die inhärente Komplexität und Heterogenität der Alkoholkonsumstörung als auch die sozialen, politischen und kulturellen Einflüsse auf die Konzeptualisierung der Alkoholkonsumstörung wider (Morris et al., 2023b, Room, 1985, Boness et al., 2021, Boness et al., 2022). In der Tat zeigt die Geschichte der Konzeptualisierung von »Alkoholproblemen«, dass ihre kontinuierliche Entwicklung stark in ihren soziokulturellen Kontext eingebettet ist (Room, 2001, Boness et al., 2022). So sind beispielsweise volkstümliche Konzepte von »Alkoholismus« im aktuellen öffentlichen Diskurs immer noch weit verbreitet, was die Dominanz des dispositionellen Krankheitsmodells während des größten Teils des 20. Jahrhunderts und die anhaltende Anerkennung der Anonymen Alkoholiker (AA) weltweit widerspiegelt (Miller und Kurtz, 1994, Morris, 2022). Allerdings waren und sind Krankheitskonzepte der Alkoholkonsumstörung im Zusammenhang mit den verschiedenen Alkohol- und Suchtnarrativen, die im Spiel sind, höchst umstritten (Pickard, 2022, Heather et al., 2018). Das »Alkoholismus«-Modell wurde beispielsweise durch das rasche Wachstum der Anonymen Alkoholiker (AA) nach deren Gründung in den 1930er Jahren bekannt, während sich gleichzeitig ein medizinisches Modell für Alkoholprobleme entwickelte (Room, 1984, Heather und Robertson, 1997). Beide Perspektiven versuchten zum Teil, die Defizite des vorangegangenen moralischen Modells der Alkoholkonsumstörung zu beheben, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In den 1980er Jahren wurden das einflussreiche Alkoholabhängigkeitssyndrom (Edwards und Gross, 1976) und die Operationalisierung von nicht-pathologischen Alkohol-»Missbrauchs«-Mustern im DSM-III und ICD-9 eingeführt, die eher empirisch abgeleitete Ansätze zur Konzeptualisierung der Alkoholkonsumstörung widerspiegeln (Day und Morris, 2021). Diese Entwicklungen markierten jedoch auch die Entstehung einer Spannung zwischen den »zwei Welten der Alkoholprobleme« als unbeabsichtigte Abspaltung behandlungsorientierter Modelle von breiter angelegten bevölkerungsbezogenen Public-Health-Ansätzen (Storbjörk und Room, 2008). In der Zwischenzeit haben sich auch die öffentlichen Diskurse gewandelt, zum Beispiel durch die zeitgenössische moralische Panik im Zusammenhang mit dem »Rauschtrinken« (Herring et al., 2008) und das jüngste Aufkommen einer modernen Identität der »positiven Nüchternheit«, die durch die Nutzung digitaler Technologien im Alltag unterstützt wird (Thurnell-Read und Monaghan, 2023).
Auch heute noch gibt es Spannungen im Zusammenhang mit Alkoholkonsumstörungen und öffentlichen Erzählungen über Alkoholkonsum und ‑probleme. Dazu gehören konkurrierende Sichtweisen in Bezug auf das Gewicht, das der Identifizierung verschiedener ätiologischer Perspektiven der Alkoholkonsumstörung und entsprechenden Finanzierungsentscheidungen beigemessen wird (Ochterbeck et al., 2023). So haben beispielsweise biomedizinische Ansätze wie neurowissenschaftliche »Hirnerkrankungs«-Modelle und genetische ätiologische Ansätze zur Alkoholkonsumstörung in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Mittel erhalten (Midanik, 2004, Room, 2021). Kritiker*innen argumentieren, dass ein biomedizinischer Fokus eine individualistische und potenziell pathologisierende Wahrnehmung der Alkoholkonsumstörung fördert, die den Genesungsergebnissen und vorgelagerten Präventionsbemühungen schadet, ohne signifikante klinische Fortschritte zu bringen (Lantz et al., 2023, Morris et al., 2023, Room, 2021). Die Befürworter*innen biomedizinisch ausgerichteter Konzeptualisierungen behaupten, dass das Potenzial neurowissenschaftlicher und genetischer Fortschritte bei der Behandlung und Prävention von Alkoholkonsumstörungen nicht ausgeschöpft sei, während ein biopsychosoziales Modell soziokulturelle und psychologische Faktoren angemessen berücksichtigt (zum Beispiel MacKillop et al., 2022). Zwangsläufig werden auch Forderungen nach anderen Formen des Pluralismus, Agnostizismus oder dynamischeren kontextabhängigen Modellen als mögliche Antworten auf die verschiedenen Spannungen in Bezug auf die »Existenz« von Alkoholkonsumstörungen, Sucht und anderen Lebensproblemen erhoben (Pickard, 2022, Heather et al., 2022).
In diesem Beitrag bewerten die Autor*innen aktuelle Ansätze zur Konzeptualisierung von Alkoholkonsumstörungen und deren Auswirkungen auf Forschung, Politik und Praxis. Sie zielen darauf ab, Probleme mit den gegenwärtigen Paradigmen der Alkoholkonsumstörung anzusprechen, die sich ihrer Meinung nach zu sehr auf biomedizinische Ursachen und Reaktionen konzentrieren und wichtige epidemiologische Belege außer Acht lassen, die einen starken Zusammenhang zwischen dem Gesamtniveau des Alkoholkonsums in einer Bevölkerung und dem Anteil der starken Konsument*innen zeigen. Der dem biomedizinischen Modell inhärente Fokus auf das Individuum hat schwerwiegende Konsequenzen für die Einführung und Umsetzung wichtiger Public-Health-Maßnahmen, die darauf abzielen, die Gesamtverteilung der Alkoholkonsument*innen (einschließlich der stärksten Konsument*innen) nach unten zu verschieben, indem sie auf die wichtigsten sozialen und umweltbedingten Determinanten von Alkoholkonsumstörungen abzielen. Die Autor*innen versuchen, sowohl die Stärken als auch die Grenzen der derzeitigen Modelle aufzuzeigen, neue und andere vorgeschlagene Modelle für Alkoholkonsumstörungen zu bewerten und zu beurteilen, wie Alkoholkonsumstörungen in verschiedenen Kontexten am besten dargestellt oder behandelt werden können. Abschließend werden Überlegungen zur Zukunft der Alkoholkonsumstörung angestellt. Die Empfehlungen richten sich an verschiedene Partner*innen, die in der Prävention und Behandlung von Alkoholkonsumstörungen tätig sind, um ein gemeinsames übergeordnetes Ziel zu unterstützen: die Prävention und Verringerung von Schäden im Zusammenhang mit Alkoholkonsum und Alkoholkonsumstörungen.
2. Empirische Grenzen des Konzepts der »biopsychosozialen« Alkoholkonsumstörung
Biomedizinische und biopsychosoziale Modelle der Alkoholkonsumstörung konzentrieren sich in der Regel stark auf biologische (zum Beispiel genetische) Faktoren und Konzeptualisierungen (zum Beispiel das Modell der Hirnerkrankung), die eine Alkoholkonsumstörung verursachen und aufrechterhalten. Obwohl einige dieser Modelle, wie zum Beispiel das biopsychosoziale Modell, vorgeben, psychologische und soziale Aspekte der Alkoholkonsumstörung zu berücksichtigen, werden individuelle biogenetische Faktoren oft am stärksten gewichtet (zum Beispiel MacKillop et al., 2022; Morris et al., 2023; Room, 2021). Infolgedessen erfassen biomedizinische Beschreibungen der Alkoholkonsumstörung nur einen kleinen Teil der bekannten Heterogenität der Alkoholkonsumstörung (zum Beispiel Zwang; Heather, 2017) und vernachlässigen somit andere wichtige Faktoren, die die Alkoholkonsumstörung verursachen und aufrechterhalten (Pickard, 2022, Boness et al., 2021, Kendler, 2012). Biomedizinische Zuschreibungen bergen das Risiko, die Alkoholkonsumstörung als individuelles, notwendigerweise chronisches Problem zu betonen, was wiederum bestimmte Stigmatisierungsprozesse fördern kann (Morris, 2022, Morris et al., 2021, Tucker, 2020, Wiens und Walker, 2015, Dar-Nimrod und Heine, 2011, Haslam und Kvaale, 2015).
Aufgrund seines Ansatzes betont das biomedizinische Modell individuelle klinische Interventionen und übersieht die starke Beziehung zwischen dem Gesamtniveau des Alkoholkonsums in einer Bevölkerung und dem Anteil der starken Konsument*innen innerhalb dieser Bevölkerung (Babor et al., 2022, Caetano und Cunradi, 2002). Die Verteilung des Alkoholkonsums in den einzelnen Ländern und über die Zeit hinweg ist ziemlich gleichmäßig, wobei auf Bevölkerungsebene die Mehrheit der Menschen geringe bis moderate Mengen Alkohol trinkt und eine kleinere Anzahl von Menschen extremere Mengen trinkt – dies wird oft als Modell der Verteilung des Konsums bezeichnet (Raninen und Livingston, 2020, Room und Livingston, 2017, Rossow und Clausen, 2013, Skog, 1985, Brunborg et al., 2017, Caetano und Cunradi, 2002, Kehoe et al., 2012). Außerdem werden nicht alle Menschen, die extreme Mengen Alkohol trinken, abhängig, und diejenigen, die es werden, erholen sich oft ohne formale Behandlung (Witkiewitz et al., 2020, Witkiewitz und Tucker, 2020, Klingemann und Klingemann, 2018). Dies steht in direktem Widerspruch zu der Vorstellung, dass es sich bei der Alkoholkonsumstörung um eine chronische und rezidivierende Hirnerkrankung handelt. Der enge Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Konsum auf Bevölkerungsebene, der Konsumverteilung und der Prävalenz von starkem Alkoholkonsum legt nahe, dass sich der Konsum aller Alkoholkonsument*innen in der Bevölkerung ändert, wenn sich der durchschnittliche Alkoholkonsum auf Bevölkerungsebene ändert. Skog (1985) beschrieb diese kollektiven Veränderungen im bevölkerungsweiten Alkoholkonsum als »Auf- und Abstieg der Alkoholtrinker*innen auf der Konsumskala« (Seite 97) im Gleichklang. Durch soziale Interaktion wirkt sich der Alkoholkonsum Einzelner direkt oder indirekt auf den Alkoholkonsum anderer aus und führt so zu kollektiven Veränderungen bei den Konsument*innen auf allen Konsumniveaus.
Das Modell der Konsumverteilung hat wichtige Auswirkungen auf Strategien im Bereich der öffentlichen Gesundheit, da es darauf hindeutet, dass Maßnahmen, die das durchschnittliche Konsumniveau in einer Bevölkerung senken, auch die Prävalenz des starken Alkoholkonsums verringern (Rose, 2001). Zu den wirksamsten Maßnahmen zur Verringerung von Alkoholschäden gehören Preiserhöhungen für Alkohol, Marketingbeschränkungen und die Verringerung der Verfügbarkeit von Alkohol, die alle den Alkoholkonsum aller Konsument*innen, einschließlich der stärksten Konsument*innen, verringern (Babor et al., 2022, Burton et al., 2017). Diese Maßnahmen verringern wahrscheinlich auch die Wahrscheinlichkeit des Übergangs von einem risikoärmeren Konsummuster zu einer Alkoholkonsumstörung. Wenn die Alkoholkonsumstörung in erster Linie durch die biomedizinische Brille betrachtet wird, werden diese hochwirksamen Interventionen auf Bevölkerungsebene leicht übersehen, was in der Tat ein Grund dafür sein kann, dass sie als politische Hebel nicht ausreichend genutzt werden (Lee, 2023, Morris et al., 2023, Morris et al., 2023b, NICE, 2010, Burton et al., 2017).
Alkoholschäden ergeben sich aus der Menge und Häufigkeit des Alkoholkonsums, die mit individuellen und gesellschaftlichen Faktoren zusammenhängen. So erhöht beispielsweise ein einmaliger starker Alkoholkonsum das Verletzungsrisiko (Taylor et al., 2010), während starker Konsum über einen längeren Zeitraum das Risiko einer Alkoholkonsumstörung oder von Erkrankungen wie alkoholbedingten Lebererkrankungen erhöht (Rehm et al., 2021). Bei einigen alkoholbedingten Erkrankungen, wie zum Beispiel Krebs, ist die Dosis-Wirkungs-Beziehung linear, wobei das Risiko bei einem Konsum von mehr als Null ansteigt, so dass die Mehrheit der alkoholbedingten Krebsfälle auf die große Zahl der mäßigen Konsument*innen und die Minderheit auf die starken Konsument*innen entfällt. Im Gegensatz dazu ist die Dosis-Wirkungs-Beziehung für Zirrhose exponentiell, was bedeutet, dass sich die Belastung durch Lebererkrankungen auf die vergleichsweise kleinere Gruppe der stärksten täglichen Konsument*innen konzentriert. Wenn man sich nur auf die stärksten Konsument*innen konzentriert, wie es bei einer biomedizinischen Betrachtungsweise der Fall ist, besteht die Gefahr, dass die erheblichen Schäden, die die relativ große Zahl der weniger starken Konsument*innen erleidet, übersehen werden, ebenso wie die Maßnahmen auf Bevölkerungsebene, die darauf abzielen, die Schäden für das gesamte Spektrum der Alkoholkonsument*innen zu verringern.
3. Mehr Genauigkeit bei der Diagnose und Ätiologie der Alkoholkonsumstörung
Viele Personen haben sich dafür ausgesprochen, dass die Konzeptualisierung der Alkoholkonsumstörung und die entsprechenden Diagnosen sich auf ein breiteres Spektrum an ätiologischen und aufrechterhaltenden Faktoren konzentrieren und über das biomedizinische Modell hinausgehen. Dazu gehören psychologische, soziale und umweltbedingte Faktoren und solche, die die Alkoholkonsumstörung als eine komplexe und heterogene Störung charakterisieren (Pickard, 2022, Room, 2001, Witkiewitz et al., 2020, Boness et al., 2021, Heather, 2017, Kendler, 2012). Solche breit angelegten Konzeptualisierungen sind von entscheidender Bedeutung, da »die funktionelle Bedeutung genetischer Varianten und polygener Risikoscores für Alkoholkonsumstörungen … weitgehend unklar ist« und »die Neuroimaging-Forschung noch keine klinisch aussagekräftigen Indikatoren zur Verbesserung von Diagnose, Prognose oder Behandlungsplanung hervorgebracht hat« (MacKillop et al., 2022, Seite 18), wodurch das biomedizinische Modell für die Behandlung und Prävention von Alkoholkonsumstörungen bestenfalls unvollständig ist.
Darüber hinaus hat die Förderung biomedizinischer Behandlungsansätze eine Reihe ethischer Implikationen, einschließlich des Potenzials, gesundheitliche Ungleichheiten zu verstärken, beispielsweise weil strukturelle Faktoren für schlechte Gesundheit übersehen werden, wenn Krankheiten als individuell lokalisiert und erzeugt betrachtet werden (Lantz et al., 2023, Barr und Meyers, 2023). In der Tat wird immer deutlicher, dass Genauigkeit und Präzision bei der Diagnose und Behandlung einer Alkoholkonsumstörung für eine bestimmte Person eine explizite Berücksichtigung der verschiedenen Prozesse (zum Beispiel psychologische, soziale und umweltbedingte) erfordern, die eine Alkoholkonsumstörung verursachen und aufrechterhalten, was einem präzisionsmedizinischen Ansatz entspricht (Litten et al., 2015, Boness et al., 2021, Boness und Witkiewitz, 2022, Kwako et al., 2016).
Für eine verbesserte diagnostische Genauigkeit und Präzision ist es daher erforderlich, über die umstrittene enge Konzeptualisierung der Alkoholkonsumstörung als chronische, schubweise verlaufende Hirnerkrankung (Heather et al., 2022) hinauszugehen, zumal wesentliche Merkmale dieser Konzeptualisierung (zum Beispiel Kontrollverlust, zwanghafter Konsum) möglicherweise nur auf bestimmte Untergruppen von Menschen mit Alkoholkonsumstörungen zutreffen (Boness et al., 2021). Dies muss auch mit einem Verständnis der soziopolitischen Einflüsse auf die Konzeptualisierung der Alkoholkonsumstörung (Boness et al., 2022) und einer stärkeren Betonung von Umweltfaktoren und der Wirksamkeit von Public-Health-Ansätzen auf Bevölkerungsebene einhergehen (Lantz et al., 2023, Morris et al., 2023b).
4. Die anhaltende Stigmatisierung von Alkoholkonsumstörungen und schädliche Genesungsstereotypen: Eine Folge des Krankheitsmodells?
Menschen mit Alkoholkonsumstörung werden in der Öffentlichkeit stark stigmatisiert (Kilian et al., 2021), was ein erhebliches, aber zu wenig beachtetes Hindernis für die Umsetzung evidenzbasierter Public-Health-Ansätze darstellt (Morris und Schomerus, 2023). Insbesondere werden Menschen mit Alkoholkonsumstörungen negativ stereotypisiert, indem sie als unberechenbar, gefährlich und schuldig angesehen werden, was wiederum vielfältige Formen der Diskriminierung nach sich zieht (Schomerus et al., 2022, Crisp et al., 2005, Kilian et al., 2021). Das Wissen um diese öffentliche Stigmatisierung hat für Menschen mit Alkoholkonsumstörung zahlreiche schädliche Folgen, insbesondere durch verinnerlichte Stigmatisierung (das heißt Selbststigmatisierung), die häufig zu Schuldgefühlen, Scham, vermindertem Selbstwertgefühl, geringerer Selbstwirksamkeit und schlechteren Genesungsergebnissen führt (Morris und Schomerus, 2023). Eine Strategie zur Bewältigung des Stigmas ist die Vermeidung von Etikettierungen, bei der Menschen dem Stigma entgehen, indem sie sich einer problematischen Alkoholkonsumidentität widersetzen (Carrieri et al., 2022, Glass, 2013). So wurde beispielsweise der Begriff »Alkoholiker*in« in einer allgemeinen Bevölkerungsstichprobe mit einer höheren impliziten und expliziten Stigmatisierung assoziiert (Ashford et al., 2018) und in einer Gemeinschaftsstichprobe von Personen mit schädlichem Alkoholkonsum mit einer geringeren Problemerkennung (Morris et al., 2021). Tatsächlich wurde Stigmatisierung durchweg als Haupthindernis für die Inanspruchnahme von Hilfe identifiziert und trägt zu einer erheblichen Behandlungslücke bei, da nur eine*r von sechs Alkoholabhängigen eine Behandlung erhält (May et al., 2019, Mekonen et al., 2021).
Dieses hohe Maß an Stigmatisierung wird auf die gängige Dichotomisierung von »Problem«- und »Nicht-Problem«-Konsument*innen im Verständnis von Lai*innen zurückgeführt (Morris et al., 2022, Schomerus et al., 2011). Diese binäre Konzeptualisierung geht zum großen Teil auf die kognitiv ansprechende Heuristik »Alkoholiker*in« vs. »Nicht-Alkoholiker*in« zurück, die sich mit der zunehmenden Popularität dispositioneller Alkoholismusmodelle im 20. Jahrhundert (Pattison et al., 1977, Babor, 1996, Heather und Robertson, 1997) und vor allem im Kontext eines zunehmend biomedizinischen Ansatzes für Gesundheit und Gesundheitsfürsorge entwickelte (Lantz et al., 2023). Darüber hinaus wurde argumentiert, dass die Betonung einer klaren Abgrenzung zwischen problematischen und nicht problematischen Konsumenten absichtlich von den Interessen der Alkoholindustrie vorangetrieben wurde, um eine wirksame bevölkerungsbezogene Politik zu unterdrücken (zum Beispiel McCambridge et al., 2021). Es wurde jedoch auch vorgeschlagen, dass Gruppen mit geringerer Alkoholkonsumstörung die Dichotomisierung von problematischem Alkoholkonsum vorantreiben, indem sie diejenigen, die als Problemtrinker*innen wahrgenommen werden, als andere betrachten, um ihr eigenes Trinkverhalten als normativ zu erhalten (Morris et al., 2021, Schomerus et al., 2011). In der Tat haben mehrere Alkoholkonsumentengruppen gezeigt, dass sie »andere« Alkoholkonsument*innen ausgrenzen, insbesondere indem sie auf deren Versagen bei der Aufrechterhaltung von Verantwortung oder Kontrolle über Alkohol hinweisen, was wiederum die Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Alkoholkonsum lenkt (zum Beispiel Davies et al., 2022; Melia et al., 2021). Am deutlichsten zeigt sich dies in der Ausgrenzung von »Alkoholiker*innen«, die sich auf extreme Stereotypen von Alkoholkonsumstörungen als schwere, unkontrollierbare und pathologische Erkrankung stützt (Morris, 2022, Wallhed Finn et al., 2014).
Auf diese Weise tragen viele Menschen mit weniger schweren Formen der Alkoholkonsumstörung ungewollt zur Alkoholstigmatisierung bei, indem sie den Unterschied und den Essentialismus gegenüber der Außengruppe der »Problemtrinker*innen« betonen (Morris und Schomerus, 2023). Es wurde eine gewisse empirische Unterstützung dafür festgestellt, dass die Alkoholstigmatisierung in Ländern mit höherem Konsum stärker ausgeprägt ist, was die Behauptung in Frage stellt, dass die Stigmatisierung als Schutzfaktor dienen könnte (Kummetat et al., 2022). Dies könnte zum Teil das Versagen von Krankheitsmodellen, zuletzt in Form eines Hirnerkrankungsmodells der Sucht, bei der Verringerung der öffentlichen Stigmatisierung von Personen mit Alkoholkonsumstörungen erklären (siehe Morris, 2022 für eine Übersicht). So ist beispielsweise trotz der zunehmenden öffentlichen Anerkennung von Sucht als Krankheit die Stigmatisierung von Alkoholkonsument*innen auf hohem Niveau geblieben und in einigen Fällen sogar noch gestiegen (Pescosolido et al., 2010, Schomerus et al., 2011, Schomerus et al., 2014a). Während also ein Krankheitsmodell einige Stigma-Komponenten (zum Beispiel Schuldzuweisungen) in einigen Kontexten (Schomerus et al., 2022, Schomerus et al., 2014b) und bei einigen Gruppen (zum Beispiel AA-Mitgliedern oder Freund*innen und Familienangehörigen von Suchtkranken; Pickard, 2022) abmildern kann, wurden biomedizinische Zuschreibungen zu psychischer Gesundheit und Sucht als »Mixed Blessing«-Modelle bezeichnet (Haslam und Kvaale, 2015).
Ein solches Modell beruht jedoch weitgehend auf der Annahme, dass Krankheitsmodelle gemäß der Attributionstheorie (Kelley und Michela, 1980) die Schuld reduzieren, doch sind solche Erkenntnisse sowohl empirisch inkonsistent¹ als auch als Begründung für die Beibehaltung eines solchen Modells fragwürdig (Morris, 2022, Morris und Schomerus, 2023). Vielmehr werden die Betonung psychologischer und gesellschaftlicher Facetten der Alkoholkonsumstörung (McGinty und Barry, 2020, Rundle et al., 2021), Kontinuumsmodelle (Morris et al., 2023b, Peter et al., 2021), kontextabhängige Framings (Pennington et al., 2023) oder andere Modelle der Verantwortung (Pickard, 2017, Schomerus et al., 2022) als aussichtsreichere Ansätze vorgeschlagen.
Während Krankheitsmodelle die öffentliche Stigmatisierung der Alkoholkonsumstörung nicht verringern konnten, wurde argumentiert, dass die Stigmatisierung der Alkoholkonsumstörung – zumindest teilweise – durch biomedizinische Zuschreibungen erzeugt wird (Morris, 2022). Ein zentraler Aspekt der öffentlichen Stigmatisierung ist der Prozess der Abgrenzung, durch den Menschen mit der stigmatisierten Erkrankung als andersartig gekennzeichnet und etikettiert und diskriminiert werden (Link und Phelan, 2001). Diese Kategorisierung von Menschen mit Alkoholkonsumstörung als grundlegend anders wird durch ein Krankheitsmodell erleichtert, in dem die Existenz der Krankheit das grundlegende Wesen der Person darstellt (Buchman et al., 2011, Harden, 2022). Ein solcher Essentialismus ist somit ein grundsätzlich stigmatisierender Prozess (Link und Phelan, 2001, Stupak, 2021, Dar-Nimrod und Heine, 2011), bei dem der »alkoholische Andere« als anders und als »schlechter Charakter« bezeichnet wird (Hamilton et al., 2023). Während eine ausgeprägte Alkoholikeridentität eine Kernkomponente der AA ist (Glassman et al., 2022) und das Potenzial bietet, das Selbststigma durch Identifikation mit der eigenen Gruppe und Solidarität aufzulösen (Cruwys und Gunaseelan, 2016), scheint die Wirksamkeit der AA vor allem auf Unterstützungsprozesse im sozialen Netzwerk zurückzuführen zu sein (Kelly et al., 2020). Auch wenn eine »Alkoholikeridentität« für viele AA-Mitglieder ermutigend sein mag, ist diese Erfahrung nicht universell, und andere können »enttäuscht aussteigen« (Glassman et al., 2022) oder diese Identität verbergen, um die öffentliche Stigmatisierung zu vermeiden (Romo et al., 2016). Wichtig ist, dass die Mehrheit der Menschen, die die Kriterien der Alkoholkonsumstörung erfüllen, niemals in Erwägung ziehen wird, eine »Alkoholikeridentität« und die damit verbundene Implikation, sich grundlegend von anderen zu unterscheiden, anzunehmen (Morris, 2022, Buchman et al., 2011); wie es im Haupttext der Anonymen Alkoholiker heißt, muss »die Wahnvorstellung, dass wir wie andere Menschen sind oder sein könnten, zerschlagen werden« (Anonyme Alkoholiker, 2001, Seite 3030).²
Ein solcher Essentialismus steht in engem Zusammenhang mit kognitiven Vorurteilen des Reduktionismus und Determinismus, die ebenfalls zu schädlichen Überzeugungen über »Störungen« beitragen (Harden, 2022). So kann beispielsweise der Glaube, eine genetische Veranlagung für »Alkoholismus« zu haben, zu einem verminderten Gefühl der Kontrolle über den eigenen Alkoholkonsum führen (Dar-Nimrod et al., 2013), während Krankheitsmodellüberzeugungen mit dem Abstinenzverletzungseffekt (Heather et al., 1982) und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zu problematischem Alkoholkonsum (gemeinhin – aber problematisch – als »Rückfall« bezeichnet; Sliedrecht et al., 2022) in Verbindung gebracht werden (Miller et al., 1996). Genetische Zuschreibungen wurden mit anderen Kosten in Verbindung gebracht, zum Beispiel ist die Überzeugung, keine genetische Veranlagung für »Alkoholismus« zu haben, mit einer größeren Ablehnung von Alkoholkonsumstörungen verbunden (Ahn und Perricone, 2022). Weitere Studien haben gezeigt, dass krankheitsorientierte »Alkoholismus«-Überzeugungen mit Kosten für eine fixe Denkweise verbunden sind und somit die Selbstwirksamkeit, das Stigma und die Genesungsergebnisse untergraben (Lindgren et al., 2020, Wiens und Walker, 2015). Diese Befunde stehen im Einklang mit Verhaltenstheorien, wonach Überzeugungen über ein Problem – insbesondere über dessen wahrgenommene Schwere und Kontrollierbarkeit – wichtige Triebkräfte für dessen Identifizierung und Lösung sind (zum Beispiel Hagger et al., 2017), auch für die Erkennung und Genesung von Alkoholkonsumstörungen (Lindgren et al., 2016, Morris et al., 2021, Bradshaw et al., 2017, Cooke et al., 2016, Corte, 2007). Außerhalb der Anonymen Alkoholiker scheint also ein in die Krankheit eingebettetes Konzept der Alkoholkonsumstörung schädliche Folgen für die öffentliche Stigmatisierung, die Problemerkennung und den Prognoseoptimismus zu haben. Diese Kosten scheinen in manchen Kontexten einige »Segnungen« (zum Beispiel die Abschwächung von Schuldzuweisungen) deutlich zu überwiegen, insbesondere wenn man bedenkt, dass die öffentliche Stigmatisierung von Menschen mit Alkoholkonsumstörungen trotz steigender Krankheitsmodellzuschreibungen fortbesteht (Morris und Schomerus, 2023).
5. Förderung eines Kontinuumsmodells der Alkoholkonsumstörung: Re-Framing des Master-Narrativs?
In den letzten Jahren wurden erneut Forderungen nach einem auf ein Kontinuum ausgerichteten Modell des Alkoholkonsums und der Alkoholprobleme laut, um die Ziele der öffentlichen Gesundheit zu fördern. Morris, Boness und Witkiewitz (2023) überprüften insbesondere die Evidenz für die Förderung eines Kontinuumsmodells als Reaktion auf die oben genannten Einschränkungen der aktuellen Konzepte für Alkoholkonsumstörungen. Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass zwar weitere Forschungsarbeiten erforderlich sind, aber ein öffentliches Verständnis von Alkoholkonsum und ‑problemen als ein breites Kontinuum³ angestrebt werden sollte, auch wenn die tatsächliche Natur der Alkoholkonsumstörung so heterogen ist, dass sie nicht genau als ein einziges Kontinuum verstanden werden kann (vielmehr umfasst die Alkoholkonsumstörung mehrere ätiologische Faktoren und Folgen und existiert daher wissenschaftlich gesehen über mehrere Kontinua, das heißt als mehrdimensional) (Watts et al., 2021, Boness et al., 2021). Die Förderung eines kontinuumsbasierten Verständnisses in der Öffentlichkeit birgt daher ein erhebliches Potenzial für die Beseitigung der größten Hindernisse bei der Verringerung der Alkoholkonsumstörung und kann erreicht werden, ohne die Behandlungsagenda zu untergraben (Morris et al., 2023a, Callinan und Room, 2023). Insbesondere wurden Kontinuumsüberzeugungen mit einer größeren Problemerkennung bei größeren, nicht hilfesuchenden Alkoholkonsumstörungsgruppen in Verbindung gebracht (Morris et al., 2020), die durch das stigmatisierende Etikett »Alkoholiker« (Morris et al., 2021) und dessen Auswirkungen auf das Selbst und die Genesung besonders abgeschreckt werden (Morris, 2022, Piras et al., 2016, Wallhed Finn et al., 2014, Dar-Nimrod et al., 2013).
In dieser Hinsicht hat ein Kontinuumsmodell klare Auswirkungen darauf, wer als Person mit »gelebter Erfahrung« von Alkoholproblemen wahrgenommen wird und was Genesung tatsächlich ist. Typischerweise wird die gelebte Erfahrung mit Alkoholkonsumstörungen von Personen mit den schwersten Formen der Alkoholkonsumstörung im Rahmen eines genesungsorientierten Diskurses erzählt (Morris et al., 2022). Diese Schieflage in Bezug auf Berichte über schwerere Formen der Alkoholkonsumstörung ist wahrscheinlich auf die bereits erwähnten historischen und sozialen (das heißt stigmatisierenden) Faktoren zurückzuführen, die die »Alkoholismus«-Modelle beeinflussen, die sich durch einen Verdinglichungsprozess der Verfügbarkeitsheuristik (Tversky und Kahneman, 1973) entwickelt haben. Das heißt, mit der Verbreitung verschiedener Iterationen des Diskurses über Krankheitsmodelle wurde ein auf Alkoholismus ausgerichtetes Paradigma zur anerkannten Weisheit, was wiederum ein Erklärungsvakuum für ein nuancierteres Verständnis von Alkoholproblemen und deren Lösung hinterließ (Morris et al., 2020, Oettingen et al., 2006). So werden sich die Leser*innen wahrscheinlich an Fälle erinnern, in denen Menschen mit Lebenserfahrung ihre eindringlichen Geschichten über die Genesung von der Sucht im Rahmen eines Krankheitsmodells erzählen, sei es auf Konferenzen, in den Medien oder in der Belletristik. Die Autor*innen gehen jedoch davon aus, dass die Leser*innen weniger wahrscheinlich auf Berichte über natürliche oder nicht abstinente Genesung gestoßen sind, die als gelebte Erfahrung von Alkoholkonsumstörung wiedergegeben werden, und sich daran erinnern. Und dies trotz jahrzehntelanger Belege für die Bedeutung sowohl der natürlichen als auch der nicht-abstinenten Genesung, selbst in der »klinischen Welt« der schwereren Alkoholkonsumstörungen (Witkiewitz et al., 2020, Witkiewitz und Tucker, 2020, Henssler et al., 2020). Das vorherrschende Master-Narrativ des Alkoholismus ist somit aus einer quasi wissenschaftlichen, aber kognitiv und sozial attraktiven öffentlichen Motivation entstanden, die Alkoholkonsumstörung auf den »alkoholischen Anderen« zu destillieren und zu essentialisieren, was wiederum eine hohe Schwelle dafür setzt, was in der öffentlichen Meinung als Alkoholkonsumstörung gilt.
Darüber hinaus wird dieses Paradigma von den Interessen der Alkoholindustrie unterstützt, die davon profitiert, dass die Alkoholkonsumstörung als Problem einer bestimmten biologischen Minderheit dargestellt wird, wodurch der Wert von Maßnahmen auf Bevölkerungsebene untergraben wird, die ihren kommerziellen Interessen schaden würden (McCambridge et al., 2021, Room, 2001, Bhattacharya et al., 2018). Der Begriff »Alkoholismus« und die darin eingebetteten Heuristiken von Krankheit, Genen, Schweregrad und Abstinenz als Genesung sind so zu einer kollateralen Realität geworden (Law, 2013), in der konkurrierende Frames⁴ von Alkoholproblemen weitgehend keine Resonanz gefunden haben. Im Einklang mit dem Kuhn'schen Paradigma, bei dem konkurrierende Narrative untergraben werden (Kuhn, 1970), wurden Erfahrungen mit nicht-abstinenten und natürlichen Genesungsprozessen ignoriert, unterbewertet oder sogar aktiv diskreditiert. Am deutlichsten wird dies durch die Verleumdungen der Forschung zum kontrollierten Trinken, die in den 1960er Jahren begannen (Roizen, 1987, Sobell und Sobell, 1995) und auch heute noch häufig im Laiendiskurs zu finden sind (Atkinson et al., 2023, Coulson, 2014).
Im Vergleich zu einem biomedizinischen Modell entspricht ein Kontinuumsmodell der Alkoholkonsumstörung auch dem Modell der Verteilung des Konsums, wobei die gleichmäßige Verteilung über die Populationen impliziert, dass es keine Abgrenzung zwischen »problematischen« und »nicht problematischen« Alkoholkonsument*innen gibt (Johnstone und Rossow, 2009). Es wurde sogar vorgeschlagen, dass ein starker Konsum im Laufe der Zeit ausreichen könnte, um alkoholbedingte Probleme zu erfassen, und zwar auf eine weniger stigmatisierende Weise (Rehm et al., 2013). Die Betrachtung von Alkoholkonsum und ‑problemen auf einem Kontinuum stimmt auch besser mit universellen Präventionsstrategien überein, die die mit der Kategorisierung von Alkoholkonsumstörungen verbundenen Probleme (zum Beispiel Stigmatisierung) vermeiden, da ihr Ziel darin besteht, den Alkoholkonsum in der gesamten Bevölkerung zu reduzieren.
Obwohl ein am Alkoholismus orientiertes Master-Narrativ im öffentlichen Diskurs⁵ Menschen mit schwerer Alkoholkonsumstörung dabei helfen kann, eine abstinenzorientierte Genesung zu erreichen, wurde argumentiert, dass seine Dominanz andere Darstellungen der Alkoholkonsumstörung verdeckt, die einer natürlichen Genesung und nicht-abstinenten Zielen eher förderlich sind (Morris et al., 2022). Das Fehlen eines Kontinuumsmodells des Verständnisses kann auch einen Teil des Scheiterns der Bemühungen erklären, routinemäßige Kurzinterventionen als wichtige Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens umzusetzen (O'Donnell et al., 2019). So übersehen beispielsweise auch Angehörige der Gesundheitsberufe Alkoholkonsumstörungen, die unterhalb der wahrgenommenen »Alkoholismus«-Schwelle liegen, und sprechen aufgrund der Stigmatisierung nur ungern über Alkohol (Aira et al., 2003, Houghton und Taylor, 2021, Khadjesari et al., 2015). Nichtsdestotrotz gibt es einige Belege für die Bemühungen von Lai*innen, ein Kontinuumsverständnis anzunehmen, zum Beispiel durch die Terminologie des »Grauzonen-Trinkens« (Atkinson et al., 2023), aber dies scheint im breiteren öffentlichen Diskurs nur begrenzt zu sein (Morris und Melia, 2019). Wie in einem soliden, aber weitgehend gescheiterten Versuch des Institute of Medicine (IoM) im Jahr 1990, ein Kontinuumsmodell zu entwickeln, hervorgehoben wurde (Institute of Medicine, 1990), sind Alkoholkonsum und ‑probleme eindeutig heterogen, existieren in verschiedenen Schweregraden und spiegeln wiederum ein äußerst komplexes Spektrum von Prozessen bei ihrer Entwicklung und Lösung wider. Leider kam der IoM-Bericht zu einer Zeit, als genetische und neurowissenschaftliche Ansätze auf dem Vormarsch waren (Davies, 2018; Koob und Weiss, 1992), die Suchtfinanzierung und ‑forschung dominierten und die Vorstellung von Alkoholkonsumstörungen als biomedizinisches und individuelles Problem weiter verankerten (Midanik, 2004, Morris, 2022, Room, 2021).
Mehr als 30 Jahre nach dem IoM-Bericht wird der Umfang der öffentlichen Narrative über die Alkoholkonsumstörung – die überlieferte Weisheit, die Alkoholkonsument*innen erben – der wahren Komplexität und Heterogenität der Alkoholkonsumstörung und der Genesung immer noch bei weitem nicht gerecht. Eine Anekdote zur Veranschaulichung: Der Erstautor hat persönliche Erfahrungen mit Alkoholproblemen, die nach dem DSM-5 als schädlicher Alkoholkonsum/Alkoholabhängigkeit (NICE/ICD-11) und mittelschwere Alkoholkonsumstörung (angesichts der Subjektivität der Symptominterpretation potenziell schwer) eingestuft worden wären. Kurz gesagt, die »Genesung« des Erstautors erfolgte spontan mit dem Auftreten einer spezifischen alkoholbedingten Gesundheitsfolge⁶, was zu acht Jahren ungeplanter Abstinenz und bis heute zu zwölf Jahren »unproblematischem«, aber regelmäßigem Alkoholkonsum führte.⁷ Während dieses Prozesses erlebte er Kommentare von Freund*innen und Familienangehörigen, die nicht als böse Absicht gewertet wurden, sondern unter anderem lauteten: »Ich glaube nicht, dass du ein echter Alkoholiker warst«, oder bei der Diskussion über die Möglichkeit, wieder zu trinken: »Du wirst absichtlich rückfällig?! Das ist ein gefährlicher Weg!«
Die Autor*innen argumentieren, dass dieses singuläre Beispiel gelebter Erfahrung die Notwendigkeit eines breiteren, stärker auf das Kontinuum ausgerichteten Verständnisses von Alkoholkonsum und ‑problemen unterstreicht, um den vorherrschenden, aber problematischen Stereotypen über Alkoholkonsumstörungen entgegenzuwirken. Die Entwicklung eines umfassenderen und vielfältigeren Gesamtbildes von Alkoholkonsum und ‑problemen erfordert eine stärkere Berücksichtigung der Heuristiken der natürlichen und nicht abstinenten Genesung sowie die Betonung von Umwelt- und kulturellen Faktoren als Hauptfaktoren der Alkoholkonsumstörung. Der jüngste Anstieg positiver Nüchternheitsbewegungen ist eine begrüßenswerte Entwicklung, die wahrscheinlich eine von den Verbraucher*innen vorangetriebene Entwicklung von Alternativen zu den AA oder traditionellen Genesungsnarrativen widerspiegelt (Sanger et al., 2019). Diese bleiben jedoch auf die Abstinenz fokussiert und können ihrerseits das Verständnis für die Komplexität der Alkoholkonsumstörung und ihrer Bewältigung nur bedingt erweitern (Morris et al., 2022).⁸
Ein entscheidender spezifischer Aspekt der öffentlichen Wahrnehmung, der durch die Förderung von Kontinuumsüberzeugungen verbessert werden könnte, betrifft die Wahrnehmung der Kontrollierbarkeit von Personen mit Alkoholkonsumstörungen. Die wahrgenommene Kontrollierbarkeit ist ein Schlüsselfaktor in den Verhaltenstheorien⁹ und es gibt Belege dafür, dass sie eine Rolle bei Alkoholkonsumstörungen spielt (Spada und Wells, 2010, Cooke et al., 2016). Während die Schwierigkeit, den Alkoholkonsum zu kontrollieren, natürlich eine gültige und wichtige Komponente der wissenschaftlichen und klinischen Bemühungen ist, Sucht zu identifizieren und zu messen, steht die Wahrnehmung der Kontrollierbarkeit der Alkoholkonsumstörung durch Lai*innen in krassem Gegensatz zu dem, wie zeitgenössische Wahltheorien der Sucht Selbstregulierungsprozesse verstehen (Heather und Segal, 2016, Hogarth, 2020). In der Öffentlichkeit ist die Unfähigkeit, den Alkoholkonsum zu kontrollieren, tief in die biomedizinische Heuristik der Alkoholkonsumstörung als pathologisch, dauerhaft, schwerwiegend, chronisch, fortschreitend und nur durch Abstinenz lösbar eingebettet. Kurz gesagt, das Alkoholismus-Paradigma ruft im Grunde genommen einen prognostischen Pessimismus hervor. Darüber hinaus ist die »Kontrolle« über den eigenen Alkoholkonsum ein entscheidender Grund für die geringe Anerkennung der Alkoholkonsumstörung und das Othering (Melia et al., 2021, Morris et al., 2022), wobei die Kontrolle auch in moralisierenden neoliberalen Diskursen über den Alkoholkonsum eine Rolle spielt (Atkinson et al., 2023). Im Gegensatz dazu wissen wir, dass die Alkoholkonsumstörung in hohem Maße soziokulturell bedingt ist, auf einem Kontinuum des Schweregrads beruht, von zahlreichen wichtigen psychologischen und umweltbedingten Faktoren abhängt und in den meisten Fällen durch eine natürliche und nicht-abstinente Genesung gelöst wird (Witkiewitz und Tucker, 2021).
Die Autor*innen schlagen vor, dass die Infragestellung der öffentlichen Wahrnehmung der vermeintlichen Unkontrollierbarkeit der Alkoholkonsumstörung einen spezifischen und stigmatisierten Aspekt widerspiegelt, der direkt angesprochen werden sollte, um den Prognoseoptimismus und die Realität der Alkoholkonsumstörung als formbares, stark kontextabhängiges und psychologisches »Lebensproblem« zu erhöhen. In der Tat deutet einiges darauf hin, dass die Erhöhung der Akzeptanz von nicht-abstinenten Zielen eine zentrale Komponente der positiven Auswirkungen von Kontinuumsüberzeugungen zur Erhöhung der Problemerkennung bei Alkoholkonsumstörungen sein könnte (Leonhard et al., 2022). Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass Selbstwirksamkeit eine zentrale Rolle für Verhaltensänderungen spielt, auch bei Alkoholkonsumstörungen (Witkiewitz et al., 2022, Adamson et al., 2009, Cooke et al., 2016) und in Abhängigkeit von der Selbststigmatisierung (Schomerus, et al., 2011). Daher sollte ein Paradigmenwechsel angestrebt werden, der auf individueller Ebene ein Kontinuumsmodell fördert, um nuancierte und wachstumsorientierte Überzeugungen über Alkoholkonsumstörungen und deren Lösung zu unterstützen, während gleichzeitig die Macht der umweltbedingten und kommerziellen Faktoren bei der Gestaltung des Konsums und der Schäden auf Bevölkerungsebene betont wird.
6. Empfehlungen für die Förderung eines auf die öffentliche Gesundheit ausgerichteten Ansatzes zur Verringerung der alkoholbedingten Schäden
Es besteht kein Zweifel daran, dass es Zeit braucht, um die öffentliche Meinung über »Alkoholismus« zu ändern, und dass dies nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist, um alkoholbedingte Schäden und die Prävalenz von Alkoholkonsumstörungen zu verringern. Nichtsdestotrotz argumentieren die Autor*innen, dass dies Hand in Hand mit wichtigen evidenzbasierten Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit geht. Preisgestaltung, Verfügbarkeit und Marketing sind die wichtigsten Hebel, die zur Verfügung stehen, um alkoholbedingte Schäden auf Bevölkerungsebene zu bekämpfen (Williams et al., 2018, Burton et al., 2017), werden aber derzeit nur sehr unzureichend genutzt, was größtenteils auf politische Unpopularität zurückzuführen ist, die wiederum skeptische Haltungen und Missverständnisse gegenüber Public-Health-Ansätzen und Alkoholkonsumstörungen widerspiegelt (McCambridge et al., 2014, Rutter und Glonti, 2016). In der Tat war die globale Alkoholpolitik Gegenstand erheblicher Lobbyarbeit der Alkoholindustrie, Framing-Strategien und rechtlicher Taktiken, die den Schwerpunkt auf die einzelnen Personen als »persönlich verantwortlich« für ihr Verhalten oder als eine bestimmte Untergruppe von »problematischen« Alkoholkonsument*innen gelegt haben (Maani Hessari und Petticrew, 2018, McCambridge et al., 2021, McCambridge et al., 2020, Morris et al., 2023, Room, 2001, Hessari et al., 2019).
Daher wurde die Alkoholpolitik als eines von mehreren Schlüsselthemen im Rahmen einer Agenda der kommerziellen Determinanten von Gesundheit vorgeschlagen, bei der die Strategien und Handlungen globaler Industrien mit hohen Kosten für die globalen Gesundheitsergebnisse verbunden sind (Lee, 2023, Kickbusch et al., 2016). Die Neuausrichtung auf ein auf das Kontinuum ausgerichtetes öffentliche Master-Narrativ bedeutet nicht, dass die Menschen von der Verantwortung für ihr Handeln freigesprochen werden, sondern dass jeder Fokus auf die Verantwortung von stigmatisierenden Schuldzuweisungen getrennt werden sollte, die in den aktuellen Alkoholismus-Tropen und ‑Narrativen eingebettet sind (Morris und Schomerus, 2023, Pickard, 2017). Darüber hinaus muss die Verantwortung zunächst auf die Rolle der Gesellschaft (auch durch die Regulierung von Unternehmensinteressen) gelegt werden, um den Einzelnen zu schützen und zu unterstützen, wie es zum Beispiel in einem dynamischen Modell der Verantwortung vorgeschlagen wird (Schomerus und Corrigan, 2022, Schomerus et al., 2022).¹⁰ Der Handlungsbedarf erscheint umso dringlicher, als die Zahl der Todesfälle durch alkoholbedingte Lebererkrankungen und der Alkoholkonsum im Zuge der COVID-19-Pandemie in vielen Ländern weiter ansteigen, wobei die Auswirkungen auf Menschen mit bereits bestehender Alkoholkonsumstörung besonders besorgniserregend sind (Angus et al., 2022, Foster et al., 2021, Gao et al., 2023, Irizar et al., 2021, Kilian et al., 2023).
Die Autor*innen rufen daher alle Beteiligten – einschließlich derjenigen in Politik, Forschung, Anwaltschaft und Medien – dazu auf, proaktiv darauf zu achten, wie die Alkoholkonsumstörung verstanden und dargestellt wird. In erster Linie ist die Anerkennung des Wertes einer Sprache, die die Person in den Mittelpunkt stellt, und die Vermeidung von »Alkoholismus«-Begriffen (bei gleichzeitiger Achtung des Rechts der Betroffenen auf Selbstbezeichnung) keine Wortpolizei, sondern unterstützt den prognostischen Optimismus und vermeidet die Entstehung schädlicher impliziter negativer Stereotype (Morris und Schomerus, 2023, Ashford et al., 2018). Viele Fachzeitschriften und Suchtorganisationen haben Schritte unternommen, um stigmatisierende Terminologie zu ändern, aber sie ist in vielen Bereichen des Suchtdiskurses außerhalb von Selbstetikettierungskontexten nach wie vor weit verbreitet, auch in der Suchtforschung (Hartwell et al., 2022). Die Beschäftigung mit der Sprache stellt daher eine wichtige Strategie in einem frühen Stadium dar, die Denkprozesse und Entscheidungsfindung von politischen Entscheidungsträgern bis hin zu einzelnen Personen prägt und beeinflusst. Dies unterstützt die Forderung nach evidenzbasierten Strategien zur Verringerung der Stigmatisierung durch eine auf die Person ausgerichtete Sprache, humanisierende Narrative und eine Betonung der gesellschaftlichen und nicht der individuellen Faktoren der Sucht (McGinty und Barry, 2020).
In Bezug auf die Alkohol- und Alkoholkonsumstörungsforschung empfehlen die Autor*innen, dass ein besonderes Augenmerk auf die Ausgewogenheit der Finanzierung und die Gewichtung der verschiedenen Disziplinen gelegt werden sollte, wobei zu berücksichtigen ist, was die größte Verringerung der alkoholbedingten Schäden und die Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens zur Folge haben wird. Wie sie darlegen, wurden die Finanzierung und die Forschung stark auf biomedizinische ätiologische Faktoren ausgerichtet, was über viele Jahrzehnte hinweg zu geringen Fortschritten bei der Behandlung und Prävention von Alkoholkonsumstörungen geführt hat. Damit soll nicht für ein Ende der biomedizinischen Forschung plädiert werden, sondern für die Anerkennung dieser Position und die Absicht, das »biologische Gleichgewicht« in einem sogenannten biopsychosozialen Modell wiederherzustellen (Morris et al., 2023). Konkret schlagen sie einige wichtige, noch nicht ausreichend berücksichtigte Forschungsbereiche vor, die ein großes Potenzial zur Verringerung der mit Alkoholkonsumstörungen verbundenen Schäden und zur Verbesserung von Politik und Behandlung haben, darunter: evidenzbasierte Strategien zur Verringerung der Stigmatisierung, Auswirkungen des Framings (zum Beispiel Kontinuumsüberzeugungen) auf eine wirksame politische Unterstützung und Verhaltensänderung bei Alkoholkonsumstörungen sowie Maßnahmen zur Unterstützung von natürlichen und nicht abstinenten Genesungsplänen.
Die Autor*innen plädieren auch für die Entwicklung von Alkoholkonsumstörung-Konzepten/Modellen, die über krankheitsbasierte Konzeptualisierungen hinausgehen, um die Heterogenität der Alkoholkonsumstörung besser widerzuspiegeln (Litten et al., 2015, Boness et al., 2021). Ein Beispiel dafür ist das Ätiologische Theorie-basierte Ontogenetische Hierarchische Rahmenwerk (ETOH) der Alkoholkonsumstörung, eine systematische Integration der Erkenntnisse über die Prozesse, die Alkoholkonsumstörungen verursachen und aufrechterhalten (Boness et al., 2021). Dieser Rahmen berücksichtigt Prozesse wie Kontrollverlust, bezieht aber auch andere empirisch relevante Prozesse wie Bewältigung und Konsummotive mit ein. Obwohl das ETOH-Konzept soziale und umweltbedingte Faktoren, die zur Alkoholkonsumstörung beitragen, nicht explizit berücksichtigt, dient es als Ausgangspunkt, um über krankheitsbasierte Konzeptualisierungen der Alkoholkonsumstörung hinauszugehen, sowohl im Hinblick auf das Verständnis der Ätiologie als auch auf Forschung, Diagnose/Klassifizierung und Behandlungsbemühungen. Rahmenkonzepte, die der inhärenten Komplexität der Alkoholkonsumstörung expliziter Rechnung tragen, können auch andere hier ausgesprochene Empfehlungen unterstützen, wie zum Beispiel die Förderung von Modellen, die sich am Kontinuum orientieren, um die Problemerkennung und das Verständnis der natürlichen Genesung zu verbessern. Darüber hinaus können sie dazu beitragen, soziopolitische Einflüsse auf Alkoholkonsumstörungen und Diagnosekriterien zu minimieren, die Präventions- und Behandlungsbemühungen untergraben können (Boness et al., 2022).
7. Schlussfolgerung
Sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit gibt es erhebliche Verzerrungen und Einschränkungen in Bezug auf die Art des Alkoholkonsums und der Probleme. Dies wiederum hat wichtige Auswirkungen auf Prävention und Genesung auf struktureller (zum Beispiel Finanzierung, Forschung und Politik), gesellschaftlicher (zum Beispiel öffentliche Einstellungen einschließlich Stigmatisierung) und individueller Ebene (zum Beispiel Problemerkennung und »Genesung«). Die Unterschiede zwischen den zeitgenössischen professionellen Konzeptualisierungen der Alkoholkonsumstörung spiegeln die inhärente Komplexität und die Herausforderungen bei der Entwicklung einer genauen und nützlichen Ontologie der Alkoholkonsumstörung, die Grenzen des aktuellen wissenschaftlichen Verständnisses sowie historische und soziokulturelle Einflüsse wider. Diese Vorurteile und Einschränkungen spiegeln ein historisch verankertes, krankheitsorientiertes »Alkoholismus«-Paradigma wider, das durch eine Reihe von zusammenfließenden Faktoren begünstigt wurde, darunter die weltweite Anerkennung der Anonymen Alkoholiker, eine biomedizinische Fokussierung auf das Verständnis der Alkoholkonsumstörung, kognitive Vorurteile, einschließlich Reduktionismus und Essentialismus, sowie verschiedene gesellschaftliche und kommerzielle Motive, die darauf abzielen, die Probleme der Alkoholkonsumstörung als auf das biogenetisch Andere beschränkt zu konstruieren. Um diese Bedenken zu zerstreuen, plädieren die Autor*innen für einen neuen, auf das öffentliche Gesundheitswesen ausgerichteten Ansatz für alkoholbedingte Schäden, der sich auf kommerzielle Faktoren und vorgelagerte Maßnahmen konzentriert, die darauf abzielen, den Alkoholkonsum in der gesamten Gruppe der Konsument*innen zu verringern, für Kontinuumsmodelle des Konsums und der Schäden, für Ansätze zur Verringerung der Stigmatisierung und für weitere Forschungsarbeiten, die eine Verfeinerung der Konzepte für Alkoholkonsumstörungen unterstützen, um bessere Präventions- und Behandlungsansätze zu ermöglichen.
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Quelle: Drug and Alcohol Dependence
Übersetzt mit www.DeepL.com