Zum ersten Mal wurden in der Schweiz in einer Studie die Erfahrungen suchtkranker Mütter untersucht. Es zeigt sich, dass sie oft stigmatisiert und zu wenig unterstützt werden. Dies erschwert auch die Situation ihrer Kinder.
Autorinnen: Michela Canevascini, Esther Kleinhage
Zitierung: Canevascini M., Kleinhage E. (2023). Stimmen von Müttern mit Suchterkrankung. Stigmatisierung, Herausforderungen und Empfehlungen. Lausanne: Sucht Schweiz. doi: 10.58758/prev001b
Quelle: Sucht Schweiz
Datum der Veröffentlichung: 14. September 2023
Stimmen von Müttern mit Suchterkrankung
Nötig sind eine Sensibilisierung der Mitarbeitenden in medizinischen und sozialen Institutionen, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) und Suchtfachstellen sowie ein größeres Angebot an spezialisierten Begleitinstitutionen für betroffene Familien.
Die elterliche Beziehung in suchtbelasteten Familien ist häufig instabil und im Falle einer Trennung kümmert sich meist die Mutter um die Kinder, auch wenn sie selbst suchtkrank ist. Eine Unterstützung dieser Mütter ist dringend notwendig, auch um die Situation der betroffenen Kinder zu verbessern und ihnen emotionale Stabilität und damit ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen.
Mütter werden oft stigmatisiert
Die Studie der Stiftung Sucht Schweiz untersuchte anhand von gut zwanzig Interviews die Erfahrungen von Müttern, die mit einem Suchtproblem konfrontiert sind.
Betroffene Mütter stammen häufig selbst aus suchtbelasteten Familien oder haben in der Vergangenheit Missbrauch und Traumatisierungen erlebt. Substanzkonsum ist häufig eine Bewältigungsstrategie, die Entwicklung einer Abhängigkeit verläuft in der Regel schneller als bei Männern. Die Mehrheit dieser Mütter kann nicht auf einen stabilen Partner zurückgreifen und einige haben auch keine Eltern, die sie unterstützen können, wenn diese zum Beispiel selbst suchtkrank sind. Psychische Fragilität und Stigmatisierung führen in vielen Fällen auch zu sozialer Isolation (zum Beispiel fehlender Austausch mit anderen Eltern).
Im Umgang mit Behörden und im Gesundheitssystem werden diese Mütter häufig stigmatisiert: Oft wird ihnen von vornherein die Fähigkeit zur Elternschaft abgesprochen, was das Selbstvertrauen, die Elternrolle in der schwierigen Situation der Suchterkrankung gut auszufüllen, zusätzlich schwächt. Gleichzeitig ist die Mutterschaft für viele Befragte auch eine Quelle der Motivation und Kraft, durchzuhalten und Veränderungen anzustreben.
Geeignete Unterstützung stabilisiert die Familien und eröffnet Perspektiven
Die Erfahrungen der betroffenen Mütter mit den Behörden sind sehr unterschiedlich. Wo unterschiedliche Schwerpunkte und Zielsetzungen bestehen (zum Beispiel zwischen KESB und Suchtfachstellen), kann sich die Situation für die Familie verschärfen. Hier ist eine Koordination und gemeinsame Zielsetzung aller beteiligten Stellen notwendig. Mit entsprechender Unterstützung und vertrauensvollen Beziehungen zu den Suchtfachstellen und den KESB kann die Elternschaft jedoch meist so gut wahrgenommen werden, dass auch die Kinder genügend Stabilität und Sicherheit erhalten. Besonders hilfreich sind dabei ambulante oder stationäre Einrichtungen, die auf Suchtprobleme spezialisiert sind und eine Begleitung in der Elternrolle anbieten. Nicht zuletzt werden so auch die Voraussetzungen für eine Therapie der Suchterkrankung geschaffen. Denn für einige betroffene Mütter gibt die Elternschaft Kraft und Motivation, eine Therapie in Angriff zu nehmen.
Verbesserungen sind auf verschiedenen Ebenen erforderlich
Schätzungsweise 100.000 Kinder leben mit einem Elternteil, der Alkohol oder eine andere Substanz in problematischer Weise konsumiert und in einem beträchtlichen Teil der Fälle abhängig ist. Etwa jede dreißigste Mutter mit minderjährigen Kindern ist von einem problematischen Konsum betroffen. Kinder von alkoholabhängigen Müttern haben ein fast zehnmal höheres Risiko als andere Kinder, später selbst alkoholkrank zu werden.
Kinder von Eltern mit Alkoholproblemen sind die vergessenen Opfer
Inmitten der verheerenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben diejenigen, die stark Alkohol konsumieren, ihren Konsum in Großbritannien noch weiter erhöht – und damit gefährdete Kinder noch mehr in Gefahr gebracht. Kinder von Eltern oder Erziehungsberechtigten mit Alkoholproblemen sind oft übersehene Opfer der Krise.
Da auch Deutschland eine Gesellschaft aufweist, in der sich alles um Alkohol dreht, sind die britischen Verhältnisse ohne Abstriche auf Deutschland übertragbar. Hier leben circa 3 Millionen Kinder in alkoholbelasteten Haushalten.
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Kinder aus stark alkoholkonsumierenden Haushalten sind gefährdet
Zahlreiche registergestützte Untersuchungen zeigen, dass Kinder von Eltern mit schwersten Alkoholproblemen einem erhöhten Risiko für zahlreiche negative Erfahrungen ausgesetzt sind. Dazu gehören ein höheres Risiko für psychische Störungen, Krankenhausaufenthalte wegen Krankheiten und Verletzungen, Säuglings- und Kindersterblichkeit, Kriminalität, schlechte Beschäftigungs- und Bildungsergebnisse, Missbrauch/Verwahrlosung und Unterbringung in Heimen/Pflegeeinrichtungen.
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Um die betroffenen Mütter und Kinder zu stärken und die Situation zu verändern, sind laut der Studie unter anderem folgende Verbesserungen notwendig:
- Mehr spezialisierte Einrichtungen, in denen Mütter mit ihren Kindern begleitet werden (zum Beispiel Ulmenhof im Kanton Zürich und Lilith im Kanton Solothurn).
- Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen, insbesondere zwischen den KESB und den Suchtfachstellen. Die Einführung eines »Case Managements&laqu;, wie es in verschiedenen Ländern in der Altenhilfe praktiziert wird, sollte geprüft werden.
- Sensibilisierung und Schulung des Personals im Gesundheits-, Sozial- und Erziehungswesen, das häufig nicht mit den Herausforderungen einer Substanzkonsumstörung vertraut ist.
Für die Studie hat die Stiftung Sucht Schweiz im Rahmen des Projekts »Kinder von drogenkonsumierenden Eltern« der Pompidou-Gruppe des Europarates 21 betroffene Mütter befragt. Bei den konsumierten Substanzen handelte es sich hauptsächlich um Alkohol, Heroin, Kokain und Cannabis. Das Projekt wurde vom Alkoholpräventionsfonds des Bundesamtes für Gesundheit finanziert.
Quelle: Medienmitteilung von Sucht Schweiz