Vergangenen November haben Abgeordnete der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen den Antrag
gestellt, zu dem der Bundestag im ersten Satz beschließen möge:
»Alkohol wird in Deutschland mit Geselligkeit, dem gemütlichen Feierabendbier oder großen Volksfesten assoziiert.«
Diese vermutlich humoristisch gemeinte Einleitung dürfte allerdings das einzige sein, dem Abgeordnete aller Fraktionen einmütig zustimmen werden – nur bedarf es dazu wirklich eines Bundestags-Beschlusses?
Am 3. März findet nun eine öffentliche Anhörung zu diesem sowie einem FDP-Antrag zum Thema Fetales Alkoholsyndrom (FAS) statt, die auch live im Internet verfolgt werden kann.
Anträge bestehen in der Regel aus zwei Teilen, der Beschlussvorlage sowie deren Begründung. Im Grünen-Antrag liest es sich in diesem Fall allerdings wie bei Dr. Jekill und Mr. Hyde: mit der richtigen Begründung das Falsche fordern. Zu recht zählen die Grünen die Versäumnisse der bundesdeutschen Alkoholpolitik auf:
- nur wenig Fortschritte in der Gesundheitsförderung – nach zehn Jahren Globaler Alkoholpräventionsstrategie der Weltgesundheitsorganisation WHO, die wirkungsvolle Maßnahmen beschreibt;
- Untätigkeit zum deutschen »Aktionsplan Alkohol« von 1997 und 2008;
- keinerlei Aktivität zur Verwirklichung des Gesundheitsziels von 2015, den gesamten Alkoholkonsum um 10 % zu senken;
- Bevorzugung von Verhaltensprävention durch Aufklärungsmaßnahmen – nachgewiesen wirkungslos – bei totaler Vernachlässigung der Verhältnisprävention durch Werbeverbote, Steuererhöhungen und Einschränkung der Verfügbarkeit - nachgewiesen wirkungsvoll;
- zu geringe Steuern auf alkoholische Getränke, bei Wein sogar: null Prozent;
- 74.000 Tote jährlich durch alkoholbedingte Erkrankungen sowie 50 Milliarden Euro Kosten für das Gesundheitssystem.
Und aus diesem Horrorpaket des Versagens, die gesamte Bevölkerung vor den nachgewiesenen Schäden jeglichen Alkoholkonsums zu schützen, schlussfolgern die Grünen-Abgeordneten lediglich, dass »Maßnahmen zur wirksameren Durchsetzung des Jugendschutzes« erforderlich seien, »insbesondere auch Hilfen für suchtbelastete Familien und deren Kinder«. Das ist löblich, aber einerseits befindet sich ausgerechnet der Alkoholkonsum von Jugendlichen gerade auf historischem Tiefstand – sie machen auch nur einen geringen Teil der jährlichen 74.000 Alkoholtoten aus, und andererseits ist der Fokus auf einzelne Zielgruppen nichts, was nach einer gesamtgesellschaftlichen Alkoholstrategie aussieht.
Ein »nicht gesundheitsschädlicher Konsum von Alkohol« oder »gar gesundheitsfördernder Konsum« seien wissenschaftlich »stark umstritten« – sie gelten als widerlegt. Stattdessen wird wie bei anderen Parteien auch von »übermäßigem Alkoholgebrauch« im Gegensatz zu »verantwortungsvollem und risikoarmen« Drogenkonsum fabuliert – so als ab Verantwortung das erste wäre, woran jemand denkt, der sich willentlich den Kopf mit Substanzen zuhaut um sich deren eingebildeter oder tatsächlicher Wirkung zu erfreuen.
Zur vernachlässigten Verhältnisprävention fällt den Grünen in ihrem Antrag auch nicht mehr ein, als die Vorschläge – gemeint sind die sogenannten »best buys«-Maßnahmen der WHO – »zu prüfen«. Wie bitte? Diese stehen seit über zehn Jahren als geprüft im Globalen Alkoholstrategiepapier der WHO. Das einzig Sinnvolle zu fordern, wäre sie endlich einmal umzusetzen.
Bei der Beschlussvorlage hat also ganz offensichtlich die Alkoholindustrie die Feder geführt. Dies ist genau dann immer der Fall, wenn die Vokabeln »Genuss«, »Verantwortung« und »deutsches Kulturgut« in einem beliebigen Text auftauchen.
Fachverbände fordern Aktivitäten zur Verhältnisprävention
Zur kommenden Anhörung wurden betroffene Fachverbände um Stellungnahmen gebeten. Die Liste liest sich wie eine Logik-Aufgabe in einem Bewerbungstest mit der Frage »Wer passt nicht dazu?«:
- Bundesärztekammer (BÄK)
- Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung (BVPG)
- Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht)
- Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)
- Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW)
Einig sind sich die meisten Sachverständigen darin, dass verhaltenspräventive Aufklärungs-Kampagnen nur dann sinnvoll wirksam werden können, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch verhältnispräventive Maßnahmen gegeben sind. So stellt das Deutsche Krebsforschungszentrum (dkfz) fest:
»Beide Anträge sind sehr begrüßenswert, da sie das Ziel haben, gesundheitliche Schäden durch Alkoholkonsum von vorneherein zu vermeiden. Beide Anträge gehen allerdings nicht weit genug.«
Dr. Katrin Schaller, dkfz
In seiner Stellungnahme begründet das dkfz, welche Elemente in den Anträgen fehlen, aber unbedingt zu einer umfassenden Alkoholpräventionsstrategie gehören müssen:
Maßnahmen, die auf eine Verhaltensänderung des Einzelnen abzielen, sind nur dann wirksam, wenn auch das Umfeld dahingehend verändert wird, dass es eine solche Verhaltensänderung unterstützt: Aufklärungskampagnen, die das Ziel haben, den Alkoholkonsum zu senken, werden unglaubwürdig und wirkungslos, wenn beispielsweise Bierwerbung im Spitzensport suggeriert, dass Alkoholkonsum leistungsfördernd und gesund sei, wenn an jeder Supermarktkasse alkoholische Getränke in kleinen Fläschchen zum Kauf in letzter Sekunde verführen und alkoholische Getränke billig und somit für jedermann leicht erschwinglich sind. Solche dem Verhaltenswandel entgegenstehenden Faktoren müssen beseitigt werden.«
Dr. Katrin Schaller, dkfz
Es gibt keine harmlose Trinkmenge für Alkohol
Auch mit einem weiteren Mythos räumt die dkfz-Sellungnahme auf, dem genussvollen, verantwortungsbewussten, gesundheitlich unbedenklichen Alkoholgebrauch hie und dem übermäßigen, verantwortungslosen, missbräuchlichen Alkoholkonsum da. Dieser Mythos verfestigt seit Jahrzehnten das Bild von Abhängigkeitskranken als charakterlose und willensschwache Menschen, die ihr Leid selbst zu verantworten haben. Das ist sehr bequem für die Alkoholproduzent*innen, die dadurch von ihrer Rolle als Schadensverursacher ablenken können und sich gar selbst noch als Wohltäter gerieren, indem sie den Missbrauch ihrer Produkte ebenfalls verdammen. Fakt bleibt aber: Jede zweite Flasche wird an einen Menschen verkauft, der mit Alkohol ein Problem hat.
»Für mehrere Krebsarten erhöht Alkoholkonsum das Erkrankungsrisiko deutlich. Bei gleichzeitigem Konsum von Alkohol und Tabak addieren sich zudem die krebserzeugenden Wirkungen von Alkohol und Tabakrauch auf. So kann das Risiko, an Kehlkopfkrebs zu erkranken bis auf das 37-Fache ansteigen. Jedes Jahr erkranken an durch Alkohol bedingten Krebsarten fast 10.000 Menschen und es sterben jährlich rund 44.500 Menschen an durch Alkohol verursachten Krankheiten. Dies alles sind vermeidbare Erkrankungen und Todesfälle.«
Dr. Katrin Schaller, dkfz
Deutschland ist Hochkonsumland für Alkohol
Mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 10,5 Litern reinem Alkohol jährlich – das entspricht einer gut gefüllten Badewanne voller alkoholischer Getränke – gehört Deutschland im internationalen Vergleich zur Spitzengruppe. Fast ein Fünftel seiner Einwohner*innen trinkt täglich mehr als die früher empfohlene, inzwischen überholte Trinkmenge von zwölf (Frauen) und 24 Gramm (Männer) Alkohol.
Alkohol ist in Deutschland im europäischen Vergleich sehr billig, in Supermärkten leicht erhältlich und in Tankstellen sogar rund um die Uhr verfügbar – Alkohol wird tatsächlich an Tankstellen verkauft, obwohl Alkohol am Steuer das Risiko für Unfälle drastisch erhöht! Jugendliche dürfen Bier und Wein bereits ab dem Alter von 16 Jahren kaufen, lediglich für Spirituosen gilt eine Altersgrenze von 18 Jahren. In den meisten EU-Mitgliedstaaten hingegen dürfen alle alkoholischen Getränke nur an über 18-Jährige verkauft werden.
»Es ist höchste Zeit, dass Deutschland einen verbindlichen Plan zur Alkoholprävention erarbeitet, der sich in erster Linie auf Verhältnisprävention stützt und Verhaltensprävention sowie Früherkennung und Frühbehandlung als ergänzende Maßnahmen einbezieht. Als vordringliche Maßnahmen sollten die Alkoholsteuern erhöht und nach Alkoholgehalt erhoben werden, die Verfügbarkeit von Alkohol durch verkürzte Verkaufszeiten und eine Anhebung der Altersbegrenzung auf 18 Jahre für den Kauf und Konsum aller alkoholischen Getränke eingeschränkt werden und die Werbung für alkoholische Getränke sollte für alle Formen der Werbung verboten werden.«
Dr. Katrin Schaller, dkfz
Deutliche Worte an die Bundesdrogenbeauftragte
»Und dass Zigaretten selbst bei bestimmungsgemäßem Gebrauch Gesundheitsschäden auslösen im Gegensatz zu Zucker oder Alkohol«, twitterte Daniela Ludwig, Drogenbeauftragte der Bundesregierung am 3. Juli 2020 so munter wie erkenntnisfrei an die Junge Union in Pullach. Dies kritisiert auch Dr. Jakob Manthey in seiner Stellungnahme des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität (TU) Dresden, der darauf hinweist, dass Alkohol das Erkrankungsrisiko für beinahe 200 Krankheiten erhöht, darunter eine Vielzahl an nicht-übertragbaren Krankheiten wie beispielsweise Speiseröhrenkrebs, Brustkrebs bei Frauen, ischämische Herzkrankheit, Kardiomyopathien und Diabetes.
»Ähnlich zu den meisten Krebsarten sind hier bereits kleine Mengen an Alkohol ausreichend, um das Erkrankungsrisiko zu erhöhen, weshalb die zitierte Aussage der Bundesdrogenbeauftragten wissenschaftlich nicht haltbar ist.
Dr. Jakob Manthey, TU Dresden
Manthey betont, dass die alkoholbedingten Schäden in der Gesellschaft ungleich verteilt sind. Er stellt fest, dass
»…sich die vermeidbaren alkoholbedingten Todesfälle – nicht wie in den beiden vorliegenden Anträgen angenommen – auf (ungeborene) Kinder oder junge Erwachsene konzentrieren, sondern über die gesamte Altersspanne verteilt sind, wobei der Höhepunkt im Alter von etwa 30 (Männer) beziehungsweise 25–44 Jahren (Frauen) zu beobachten ist.
Dr. Jakob Manthey, TU Dresden
Auf die Frage, welche Erfolge Deutschland hinsichtlich der Erreichung selbst gesetzter Ziele zur Konsumsenkung gemacht hat, antwortet Manthey kurz und bündig: »keine«.
Die niedrigen Preise für alkoholische Getränke in Deutschland stünden dem ebenso entgegen wie auch, dass sich die Besteuerung nicht nur zwischen alkoholischen Getränken unterscheide, sondern auch den Alkoholanteil pro Getränk vernachlässige.
»So wird beispielsweise, und im Gegensatz zu anderen europäischen (nicht-EU) Ländern, keine gesonderte Steuer auf Wein erhoben – entsprechend der Subventionsstrategie der Europäischen Union. Die gegenwärtige Besteuerung unterschiedlicher alkoholischer Getränke führt dazu, dass Kaufanreize für Wein und Bier geschaffen werden.
Dr. Jakob Manthey, TU Dresden
Eine kürzliche Schätzung habe ergeben, dass schon bei einer Verdoppelung der Verkaufspreise 4 % der alkoholbedingten Krebserkrankungen vermieden würden. In den meisten europäischen Ländern würden die von der WHO empfohlenen alkoholkontrollpolitischen Maßnahmen nicht oder nur unzureichend umgesetzt.
Von der WHO empfohlene drei »best buys«
Vorbild Litauen
Eine wichtige europäische Ausnahme sei Litauen, wo seit 2004 schrittweise die drei »best buys« neben anderen effektiven Maßnahmen umgesetzt wurden. Dadurch zeige sich nicht nur ein verminderter Alkohol-Pro-Kopf-Konsum in Litauen, sondern auch eine Abnahme alkoholbedingter Unfälle sowie eine Verringerung der Gesamtsterblichkeit. Auch Schottland und Wales mit ihrer Einführung von Mindestpreisen für alkoholische Getränke werden von ihm als positives Beispiel angeführt.
Manthey kommt zu dem Schluss, dass
- der Alkoholkonsum durch Einschränkungen der Verfügbarkeit reduziert werden kann, was zu einer besseren Gesundheit breiter Bevölkerungsteile beiträgt – die wiederum solche Maßnahmen auch befürwortet;
- bei der Gestaltung politischer Maßnahmen unbedingt darauf geachtet werden muss, dass Hilfeangebote für vulnerable Gruppen umfassend und beständig vorgehalten werden, um auch ihre Gesundheit vor dem Hintergrund der hohen Stigmatisierung von Alkoholkranken zu verbessern.
Die beiden Anträge hält Manthey für unzureichend in der Beurteilung der weitreichenden Belastung, die Alkoholkonsum für die Bevölkerung darstellt. Der FDP-Antrag
wirft bei ihm die Fragen auf, warum zum einen der Schutz nur vor schweren und nicht vor allen Schäden erfolgen solle und zum anderen warum nur eine kleine Gruppe der von Alkoholkonsum Geschädigten mit einer Maßnahme bedacht würde.
Auch hält er es für falsch, die Verantwortung für die Entstehung des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) ausschließlich bei den schwangeren Frauen zu suchen. Um den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft effektiv vermeiden zu können, brauche es die Unterstützung der Partner*innen ebenso wie des gesamten sozialen Umfelds.
»Deshalb ist es notwendig, eine gesellschaftliche Umgebung zu schaffen, in der Alkoholkonsum nicht die Normalität, sondern die Ausnahme darstellt.«
Dr. Jakob Manthey, TU Dresden
Zum Antrag der Grünen bemerkt er, dass ihre Forderungen nach Einhaltung von Jugendschutzregeln und Unterstützung von Alkoholkranken zwar wichtig seien, aber nicht darauf abzielen, die alkoholbedingten Schäden in weiten Teilen der Gesellschaft zu reduzieren. Auch er hält es für unnötig Vorschläge zu Einschränkungen von Werbung und Verfügbarkeit sowie Preissteigerungen von weiteren Expert*innen prüfen zu lassen.
»Die Evidenzlage ist mehr als ausreichend, um zu fordern, dass diese Vorschläge zeitnah umgesetzt und wissenschaftlich evaluiert werden sollen.«
Dr. Jakob Manthey, TU Dresden