Frau hebt fragend die Arme, eingeblendet ist Gastoutor Tim Stockwell

Das Medienecho auf eine brandneue, viel beachtete Studie, die angeblich beweist, dass geringer Alkoholkonsum vor allem bei älteren Menschen zu einer besseren Gesundheit führt, war schnell und breit gestreut und wurde oft von sensationellen Schlagzeilen begleitet.

Aber wie kommt es, dass mehrere hundert Autor:innen eine Studie in der führenden medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichen, die weltweit eine Million Alkoholtote ausschließt, ohne dass jemand Bedenken äußert?

In diesem Blogartikel teilt Prof. Tim Stockwell seine detaillierte Analyse der berühmten neuen Studie mit. Prof. Stockwell hat sich tief in den Anhang der Studie eingegraben, und was er gefunden hat, ist nicht schön.

Diese zeitnahe Analyse deckt Mängel, Unzulänglichkeiten und methodische Probleme auf, die Zweifel an den Grundlagen der Studie und ihren Schlussfolgerungen aufkommen lassen.

Vielleicht haben Sie die Medienberichterstattung über eine viel beachtete Studie in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet verfolgt, in der mehrere hundert Autor:innen zuversichtlich behaupten, dass ein leichter Alkoholkonsum mit einer besseren Gesundheit verbunden sein kann, insbesondere bei älteren Menschen in den Industrieländern (Global Burden of Disease [GBD] 2020 Alcohol Collaborators, 2022).

CNN, zum Beispiel, hat diesen Satz aufgegriffen und weiterverbreitet:

Wenn Sie 40 Jahre oder älter sind und keine gesundheitlichen Probleme haben, könnten kleine Mengen Alkohol das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall und Diabetes verringern.«
Sandee LaMotte, CNN

[In Deutschland titelte die Zeitschrift Brigitte: »Ab diesem Alter kann Alkohol der Gesundheit sogar guttun«.]

Eine Geschichte zweier Studien

…beide Studien wiesen genau das gleiche Ergebnismuster auf, wurden aber unterschiedlich interpretiert. Beide Studien ignorierten die zunehmend verbreitete wissenschaftliche Kritik an der Vorstellung, dass Alkohol in Maßen gut für die Gesundheit ist.«
Tim Stockwell

Ein Großteil der Kommentare von Wissenschaftler:innen und Medien konzentrierte sich auf die unterschiedliche Ausrichtung dieser Schlussfolgerung im Vergleich zu einer früheren Lancet-Studie der gleichen Gruppe, die zuversichtlich zu dem Schluss kam, dass es »kein sicheres Maß an Alkoholkonsum« gibt (Griswold et al., 2018).

Wegweisende Studie: Kein Maß an Alkoholkonsum verbessert die Gesundheit

Schwarz-Weiß-Foto einer unetikettierten Flasche auf Tisch stehend

Eine neue bahnbrechende Studie zeigt, dass es kein Maß an Alkoholkonsum gibt, das die Gesundheit verbessert oder gut für die Gesundheit ist, und dass die Alkoholkontrollpolitik weltweit überarbeitet werden muss, indem man sich auf Bemühungen konzentriert, den Gesamtkonsum der Bevölkerung zu senken.

»Das Maß an Alkoholkonsum, das den Schaden für die Gesundheit am geringsten hielt, lag bei null Standard-Alkoholgetränken pro Woche«, schreiben die Forscher*innen in der Zusammenfassung ihrer Studie.

Tatsächlich zeigt eine genaue Lektüre der beiden Studien, dass sie genau dasselbe Ergebnismuster hatten, es aber unterschiedlich interpretiert wurde:

  • die frühere, in der die durchschnittlichen globalen Auswirkungen hervorgehoben wurden,
  • die neuere, in der die Schätzungen nach Weltregionen und Altersgruppen aufgeschlüsselt sind.

Beide Lancet-Papiere zeigen, dass die meisten Beobachtungsstudien feststellen, dass mäßiger Alkoholkonsum, insbesondere bei älteren Menschen in den Industrieländern, mit einer geringeren Sterblichkeit verbunden ist. Wie ich später erörtern werde, ignorierten diese beiden Studien die zunehmend verbreitete wissenschaftliche Kritik an der Vorstellung, dass Alkohol in Maßen gut für die Gesundheit ist (zum Beispiel World Heart Foundation, 2022).

Weitere Schwachstellen in der aktuellen Studie

1 Mio

Mehrere 100 Lancet-Koautoren verloren eine Million alkoholbedingte Todesfälle weltweit

Während die Lancet-Studie von 2018 von 2,8 Millionen alkoholbedingten Todesfällen weltweit im Jahr 2016 ausging, schätzt die neue Studie nur 1,8 Millionen im Jahr 2020.

Was kaum kommentiert wurde, soweit ich das beurteilen kann, ist, dass diese neue Analyse weltweit 1 Million alkoholbedingte Todesfälle verloren hat!

Während die Lancet-Studie von 2018 von 2,8 Millionen alkoholbedingten Todesfällen weltweit im Jahr 2016 ausging, schätzt die neue Studie nur 1,8 Millionen im Jahr 2020. Der Alkoholkonsum ist in der Zwischenzeit weltweit NICHT zurückgegangen, wo also ist diese Million Todesfälle geblieben?

Die Antwort ist einfach, dass in der neuen Studie eine neue, unkritische Schätzung des Einflusses von Alkohol auf ischämische Herzkrankheiten, eine der häufigsten Todesursachen weltweit, aufgenommen wurde.

Ein Blick auf die neue systematische Übersicht und die Meta-Analyse im Anhang dieser großen neuen Studie zeigt, dass der Schutz vor Herzkrankheiten für Menschen geschätzt wurde, die bis zu NEUN alkoholische Getränke pro Tag zu sich nehmen! Dies ist nach allen Maßstäben ein enormer Schutz, der für die beobachteten Ergebnisse, über die so unkritisch berichtet wird, voll und ganz verantwortlich ist. Die früheren GBD-Schätzungen gingen davon aus, dass Alkohol bis zu sechs Drinks pro Tag für Männer oder Frauen vor Herzkrankheiten schützt. Beide GBD-Schätzungen sind ohnehin unplausibel, da diese Mengen an Alkoholkonsum a) den Blutdruck, einen bekannten Risikofaktor für Herzkrankheiten, stark ansteigen lassen und b) einen Alkoholkonsum im Übermaß darstellen, der bekanntermaßen den Anschein eines Schutzes vor Herzkrankheiten zunichte macht. Andere Schätzungen in von Expert:innen begutachteten Meta-Analysen haben den scheinbaren Kardio-Schutz auf nur EIN alkoholisches Getränk pro Tag geschätzt (Zhao et al., 2017).

Die Schätzung der Studienautor:innen, dass der Konsum von bis zu NEUN alkoholischen Getränken pro Tag vor Herzkrankheiten schützen würde, ist für die beobachteten Ergebnisse – 1 Million weniger alkoholbedingte Todesfälle und ein ›mäßiger‹ Alkoholkonsum, der für ältere Menschen gesund ist – voll verantwortlich.«
Tim Stockwell

Häufig wird bei diesen Schätzungen auch übersehen, dass es sich bei den gemeldeten Todesfällen um Nettoschätzungen handelt, das heißt um den Nettoeffekt der durch Alkohol verursachten Todesfälle abzüglich der verhinderten Todesfälle, also durch die offensichtlichen schützenden Wirkungen gegen Herzkrankheiten, ischämische Schlaganfälle und Diabetes Typ II. Es kann gut sein, dass sich hinter den gemeldeten 1,8 Millionen Netto-Todesfällen weltweit etwa 6 Millionen durch Alkohol verursachte Todesfälle und etwa 4 Millionen, die durch »moderaten« Alkoholkonsum verhindert werden können, verbergen. Wir wissen es nicht.

Keine Menge Alkohol ist gut für das Herz, sagt die World Heart Federation

Alkohol ist schlecht für das Herz

In einem neuen Positionspapier stellt der Weltherzverband (WHF) die weit verbreitete Vorstellung in Frage, dass mäßiger Alkoholkonsum das Risiko von Herzerkrankungen verringern kann, und fordert dringende und entschlossene Maßnahmen, um den beispiellosen Anstieg alkoholbedingter Todesfälle und Behinderungen weltweit zu bekämpfen.

Ich denke, die Autor:innen sollten die tatsächlichen Zahlen transparent darstellen, da dies einen gewaltigen Unterschied macht – vor allem, wenn der Schutz vor Herzkrankheiten (und damit auch vor ischämischen Schlaganfällen und Diabetes) so umstritten ist.

Die GBD-Gruppe sollte Schätzungen zu beiden Seiten der Bilanz vorlegen - und dann sehr schnell sagen, dass die Wissenschaft hinter dem schützenden Teil so umstritten ist, dass das führende internationale Gremium, das sich mit der Herzgesundheit befasst, Anfang 2022 einen Bericht herausgegeben hat (World Heart Foundation, 2022), der diese Beweise kritisiert.

Alkohol und Herzkrankheiten – was ist wirklich los?

Sherk et al. (2019) verwendeten die bescheideneren GBD-Schätzungen von 2016 für den Schutz vor Herzkrankheiten, um eine vollständige, transparentere Bilanz der durch Alkoholkonsum verursachten beziehungsweise verhinderten Todesfälle sowohl für Kanada als auch für Australien zu erstellen.

  • In Kanada zum Beispiel wurden hinter 5.179 Todesfällen 9.255 verursacht und 4.076 verhindert.
    Das heißt die durch Alkohol verursachten Bruttotodesfälle waren fast doppelt so hoch wie die Nettotodesfälle, wenn man konservativere Annahmen über den Herzschutz zugrunde legt als in der jüngsten GBD-Studie.

Auch hier gilt, dass, wenn die verhinderten Todesfälle so umstritten und unsicher sind, die Angabe der durch Alkohol verursachten Bruttotodesfälle und nicht das Verstecken dieser Todesfälle hinter den Nettozahlen eine umfassendere Darstellung des tatsächlichen Schadens des Alkohols für die menschliche Gesundheit ermöglicht.

Was verbirgt sich also hinter diesen stark schwankenden Schätzungen der Auswirkungen von Alkohol auf Herzkrankheiten, Schlaganfall und Diabetes? Diese Krankheiten sind zusammen für fast die Hälfte aller Todesfälle weltweit verantwortlich, und deshalb sind die Annahmen über die Risikoverhältnisse bei Alkohol kritisch.

Herzkrankheiten (die häufigste dieser drei Krankheiten) sind eine Krankheit älterer Menschen. In der überwiegenden Mehrheit (etwa 80 %) der Studien, in denen die Auswirkungen von Alkohol auf Herzkrankheiten untersucht werden, werden die Gesundheitsergebnisse aktueller Alkoholkonsument:innen mit denen von Personen verglichen, die zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie als »Abstinente« eingestuft wurden. Dazu gehören auch ehemalige Alkoholkonsument:innen, von denen viele als »kranke Aussteiger:innen« bezeichnet werden, also Menschen, die krank werden und daraufhin den Alkoholkonsum aufgeben. Es ist allgemein bekannt, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Menschen aus diesen Gründen zu Abstinenten werden. Das bedeutet, dass die Vergleichsgruppe der Abstinenten mit zunehmendem Alter immer ungesünder wird und damit die überlebenden Alkoholkonsument:innen immer robuster erscheinen.

In der neuen Lancet-Studie wird zwar behauptet, dass »kranke Aussteiger:innen« berücksichtigt wurden, aber es werden keine Einzelheiten darüber genannt, wie dies geschehen ist. Wie ich in Kürze erläutern werde, geht die vollständige Berücksichtigung dieser Effekte ohnehin weit über das übliche Mittel hinaus, »ehemalige Alkoholkonsument:innen« aus den Abstinenten-Referenzgruppen zu entfernen – eine Praxis, die in modernen Studien häufiger vorkommt, aber keineswegs die Regel ist.

Dies ist nicht nur ein abstraktes theoretisches Problem. Es ist nachweislich der Fall, dass Studien mit älteren Kohorten (zum Beispiel über 50 Jahre bei der Aufnahme) einen massiven offensichtlichen Kardioschutz aufweisen, während jüngere Kohorten, die bis mindestens 55 Jahre (wenn sie beginnen, ein Risiko für Herzerkrankungen zu haben) verfolgt wurden, wenig oder keinen Kardioschutz zeigen (Zhao et al., 2017). In den letztgenannten Studien besteht viel weniger die Möglichkeit, dass lebenslange Selektionsverzerrungen auftreten, bei denen die schlechte Gesundheit ehemaliger Alkoholkonsument:innen die anhaltenden aktuellen Alkoholkonsument:innen im Vergleich gesund aussehen lässt. Es sollte ein grundlegendes Qualitätskriterium bei der Auswahl von Studien sein, dass solche Effekte minimiert werden, was bei der neuen GBD-Studie eindeutig nicht der Fall ist.

Es sollte ein grundlegendes Qualitätskriterium bei der Auswahl von Studien sein, dass solche Effekte minimiert werden, was bei der neuen GBD-Studie eindeutig nicht der Fall ist.«
Tim Stockwell

Außerdem gibt es Verzerrungen, die in kaum einer veröffentlichten Studie bei der Erstellung dieser Schätzungen berücksichtigt wurden.

  1. Erstens hat sich gezeigt, dass junge Erwachsene, die seit jeher abstinent leben, von Anfang an einen schlechteren Gesundheitszustand haben als ihre alkoholkonsumierenden Altersgenossen (Fat et al., 2015).
    So sind selbst lebenslange Abstinente gesundheitlich benachteiligt und lassen Alkoholkonsument:innen im Vergleich dazu gesund aussehen.
  2. Zweitens reicht es nicht aus, ehemalige Alkoholkonsument:innen aus der Vergleichsgruppe der Abstinenten zu entfernen, um diese Verzerrung zu beseitigen – es ist auch notwendig, diese ehemaligen Alkoholkonsument:innen zusammen mit aktuellen Alkoholkonsument:innen neu zuzuordnen, um eine umfassendere Bewertung der Gesamtauswirkungen von Alkohol zu erhalten.
    Andernfalls wurde nur die Hälfte dieses Selektionsfehlers beseitigt. Nebenbei bemerkt betrifft diese Verzerrung ALLE Schätzungen von Krankheiten, die auf Alkohol zurückzuführen sind, und nicht nur diejenigen, von denen angenommen wird, dass sie mit gesundheitlichen Vorteilen verbunden sind.
    Mit anderen Worten: Die mit dem Alkoholkonsum verbundene Krankheitslast für das gesamte Spektrum der alkoholbedingten Krankheiten, einschließlich Lebererkrankungen, Krebs und Schlaganfall, wird wahrscheinlich erheblich unterschätzt.
Wahrscheinlich wird die Belastung durch alkoholbedingte Krankheiten im gesamten Spektrum der alkoholbedingten Krankheiten, einschließlich Lebererkrankungen, Krebs und Schlaganfällen, erheblich unterschätzt.«
Tim Stockwell

Drei Schlussfolgerungen

Ich komme zu dem Schluss, dass trotz des enormen Arbeitsaufwands, den die GBD-Studiengruppe in die Erstellung dieser Schätzungen gesteckt hat, der beeindruckenden Liste von mehreren hundert Mitautor:innen und der Veröffentlichung in der führenden Fachzeitschrift The Lancet, die Grundlagen dieser Schätzungen äußerst schwach und die Schlussfolgerungen irreführend sind.

Die Nichtanerkennung der gängigen fachlichen und glaubwürdigen wissenschaftlichen Kritik an der Herzschutzhypothese wird die weltweite Alkoholindustrie zu lautem Beifall veranlassen und zweifellos Millionen älterer Menschen dazu ermutigen, Alkohol in dem – wahrscheinlich falschen – Glauben zu konsumieren, er würde sie vor Krankheiten schützen.

Schließlich ist die Angabe der geschätzten alkoholbedingten Todesfälle abzüglich dieser umstrittenen Ergebnisse zur Rettung von Menschenleben eine grobe Unterschätzung der tatsächlichen globalen Krankheitslast durch Alkohol und ein Bärendienst für die öffentliche Gesundheit.

Unser Gastautor

Tim Stockwell

Professor Tim Stockwell ist Direktor des Canadian Institute for Substance Use Research (CISUR) und Professor an der Fakultät für Psychologie der Universität Victoria.
Er hat über 400 Forschungsarbeiten, Buchkapitel und Monografien sowie mehrere Bücher zu Präventions- und Behandlungsfragen veröffentlicht.
Zu den Forschungsinteressen von Professor Stockwell gehören: Prävention von alkohol- und drogenbedingten Schäden; ordnungspolitische Maßnahmen zur Verringerung alkoholbedingter Schäden; Messung des Alkoholkonsums und der damit verbundenen Schäden.

Referenzen

  • Fat LN, Cable N, Shelton N (2015) Worsening of Health and a Cessation or Reduction in Alcohol Consumption to Special Occasion Drinking Across Three Decades of the Life Course. Alcohol Clin Exp Res 2015, 39(1):166-174.
  • GBD Alcohol 2020 Collaborators (2022) Population-level risks of alcohol consumption by amount, geography, age, sex, and year: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2020. Lancet: 2022; 400: 185–235.
  • Griswold MG, Fullman N, Hawley C, et al. (2018) Alcohol use and burden for 195 countries and territories, 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet 2018; 392: 1015–35.
  • Sherk A, Gilmore W, Churchill S, Lensvelt E, Stockwell T, Chikritzhs T. (2019) Implications of cardioprotective assumptions for national drinking guidelines and alcohol harm monitoring systems. Int J Environ Res Public Health 2019; 16: E4956.
  • World Heart Federation (2022) The impact of alcohol consumption on cardiovascular health. Geneva
  • Zhao J, Stockwell T, Roemer A, Naimi T, Chikritzhs T (2017) Alcohol Consumption and Mortality From Coronary Heart Disease: An Updated Meta-Analysis of Cohort Studies. J Stud Alcohol Drugs 2017, 78(3):375-386.

Quelle: MOVENDI International

Übersetzt mit www.DeepL.com