Foto eines Demonstrationszuges zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Verschiedene darin getragene Transparente weisen auf den Sozialdemokratischen Abstinentenbund hin: 'Wer ist der größte Freind jeder Organisation? Der Alkohol!', 'Kampf gegen den Alkoholismus' sowie 'Bier macht dick, dumm und faul'.
»Bier macht dick, dumm und faul« – Parole des Sozialdemokratischen Abstinentenbunds

Manchmal wird behauptet, dass Lobbyist*innen für eine Alkoholkontrolle wie das Institute of Alcohol Studies (IAS) »Neo-Abstinenzler*innen« seien. Da die Abstinenzbewegung allgemein als düster, belehrend und verurteilend wahrgenommen wird, sind solche Anschuldigungen nicht als Kompliment gemeint.

Aber sind solche Vorwürfe fair – sowohl gegenüber den Aktivist*innen der Alkoholkontrollkampagnen als auch gegenüber ihren viktorianischen Vorgänger*innen?

Historische Zusammenhänge

Es ist sicherlich richtig, dass das IAS direkte historische Verbindungen zur Abstinenzbewegung hat. Es wurde 1983 von der United Kingdom Temperance Alliance (UKTA) gegründet, die 2003 ihren Namen in Alliance House Foundation (AHF) änderte. Die AHF ist nach wie vor der Hauptgeldgeber des IAS – was auf der IAS-Website offen dargelegt wird. Die UKTA selbst wurde 1942 von der United Kingdom Alliance gegründet. Die 1853 in Manchester gegründete United Kingdom Alliance war eine der radikalsten und politisch wirksamsten Abstinenzorganisationen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert tätig waren. Sie setzte sich für die Förderung der vollständigen Abstinenz durch ein vollständiges Alkoholverbot ein und kam ihrem Ziel 1892 nahe, als eine liberale Regierung gewählt wurde, die stark von Aktivisten der Alliance beeinflusst war und versprach (am Ende jedoch erfolglos), ein Prohibitionsgesetz einzuführen.

Auch andere bekannte Organisationen für die Kontrolle des Alkoholkonsums haben direkte Verbindungen zur Abstinenzbewegung. Movendi International, früher bekannt als IOGT, ist aus dem Independent Order of Good Templars hervorgegangen, einer internationalen Abstinenzorganisation, die Kampagnen gegen Alkohol in Ländern auf der ganzen Welt unterstützte. Die AHF spielte auch eine Schlüsselrolle bei der Gründung der Global Alcohol Policy Alliance im Jahr 2000, zu der ihr damaliger Vorsitzender sagte: »Erst im Laufe der Zeit werden wir in der Lage sein, den Erfolg dieses Vorhabens zu beurteilen, aber ich freue mich sagen zu können, dass es bisher äußerst vielversprechend aussieht.«

Nicht alle Organisationen zur Alkoholkontrolle haben direkte historische Verbindungen zur Abstinenzbewegung. Einige haben ganz andere historische Wurzeln. Alcohol Change UK zum Beispiel wurde 1982 (damals unter dem Namen Alcohol and Education Research Council) mit nicht verwendeten Mitteln aus einer 1904 eingeführten Biersteuer gegründet. Andere haben ihren Ursprung in der Bereitstellung von Behandlungsdiensten (zum Beispiel Alcohol Concern, das später mit Alcohol Research UK fusionierte) oder in medizinischen Einrichtungen (wie die Scottish Action on Alcohol Problems, die 2006 von den Medical Royal Colleges in Schottland ins Leben gerufen wurde).

Ansichten zur Abstinenz

Die Behauptung, dass einige Organisationen zur Kontrolle des Alkoholkonsums ihre Wurzeln in der Abstinenzbewegung haben, ist also wahr. Aber macht sie das zu »Neo-Abstinenzler*innen«? Nun, das hängt davon ab, was Sie unter »Abstinenz« verstehen …

Die viktorianische Abstinenzbewegung wird oft als freudlos und puritanisch abgestempelt – und daran ist zweifellos etwas Wahres dran. In einem Leitartikel der Times aus dem Jahr 1833 wurden die frühen Anhänger*innen der Abstinenzbewegung als »pharisäerhafte Besserwisser*innen« bezeichnet. Charles Dickens nannte 1849 die Befürworter*innen der totalen Abstinenz »ein öffentliches Übel«. 1859 beschrieb der große viktorianische liberale Philosoph John Stuart Mill den Prohibitionismus als eine »monströse Theorie« sozialer Rechte, die von allen Menschen ein Verhalten forderte, wie es die Abstinenzaktivist*innen bevorzugten.

Wahlplakat der Labour Party von circa 1895.
Wahlplakat der Labour Party um 1895.

Die viktorianische Abstinenzbewegung war jedoch weit mehr als das. Ihre Ansicht, dass Alkohol dem Einzelnen und der Gesellschaft schadet, wurde nicht nur von konservativen Moralist*innen und utopischen Idealist*innen vertreten (obwohl es davon reichlich gab). Sie wurde auch von frühen Antikolonialist*innen geteilt, die beispielsweise in Irland der Meinung waren, dass Alkohol die Fähigkeit der Kolonisierten schwächte, für ihre Freiheit zu kämpfen. Sozialistische Abstinente (darunter der Gründer der Labour Party, Keir Hardie) waren der Meinung, dass die Alkoholindustrie die Arbeiter*innen ausbeutete, indem sie sie dazu ermutigte, ihr hart verdientes Geld für den kurzfristigen Eskapismus des Alkoholkonsums auszugeben (Geld, das praktischerweise wieder in die Taschen der kapitalistischen Brauereien floss …). Der zuvor versklavte Abolitionist Frederick Douglass bemerkte, dass viele Plantagenbesitzer*innen die Sklav*innen dazu ermutigten, sich gelegentlich zu betrinken, da dies die Illusion von Freiheit schuf, die der Emanzipation nicht förderlich war. Frauenrechtlerinnen (wie die unermüdliche Aktivistin Frances Willard) forderten eine Abstinenzreform, um häusliche Gewalt zu reduzieren.

Die Abstinenzbewegung war, wie die heutige Umweltschutzbewegung, ein Zusammenschluss verschiedener und unterschiedlicher Gruppen. Wie viele soziale Bewegungen war sie auch von internen Streitigkeiten geprägt – insbesondere zwischen Anhänger*innen der Mäßigkeitsbewegung (die Maßnahmen zur Reduzierung des Konsums unterstützten) und Abstinenten, die jegliches Alkoholtrinken ablehnten und Anhänger*innen der Mäßigkeitsbewegung als bloße Diener*innen der Alkoholindustrie betrachteten. Unter den Abstinenten gab es wiederum zwei Lager: Die einen befürworteten Reformen durch freie, persönliche Entscheidungen, die anderen (wie die UKA) waren der Meinung, der Staat solle Alkohol verbieten, um die Menschen vor sich selbst zu schützen.

Die gefährliche Brücke der Mäßigung und die sichere Brücke der Abstinenz.
»Die gefährliche Brücke der Mäßigung und die Brücke der Abstinenzsicherheit«

Mit der Aufhebung der Prohibition in den USA im Jahr 1933 und einer langen Phase des niedrigen Alkoholkonsums, die vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis in die frühen 1960er Jahre andauerte, verlor die Abstinenzbewegung ihre gesellschaftliche Dringlichkeit und ihren politischen Einfluss. Viele Organisationen schlossen, andere erlebten einen Niedergang. Der steigende Konsum und das Aufkommen einer neuen »gesundheitspolitischen Perspektive« auf Alkoholprobleme in den 1970er Jahren führten jedoch dazu, dass die Kontrolle des Alkoholkonsums wieder zu einem ernsthaften politischen Anliegen wurde – und trugen dazu bei, den Fokus der Alkoholpolitik auf die Bevölkerung wiederzubeleben. Der Geist der Abstinenz, der sich im Laufe der Zeit verändert hatte und sich nun mehr auf die Gesundheit als auf moralische Tugend konzentrierte, begann wieder aufzuleben.

In jüngster Zeit haben sich einige Organisationen für Alkoholkontrollpolitik auf ihre Abstinenzwurzeln besonnen. Andere würden sich dem Vergleich zweifellos entziehen. Die Realität ist jedoch, dass viele der Grundprinzipien der Abstinenz (dass Alkohol, weil er schädlich sein kann, strengen Kontrollen unterliegen sollte; dass weniger Alkoholkonsum besser ist; und dass kein Alkoholkonsum am besten wäre) mit der heutigen Argumentation für Alkoholkontrollpolitik geteilt werden. Wie die Abstinenz umfasst auch die heutige Befürwortung der Alkoholkontrolle ein breites Spektrum an Ansichten: von der Überzeugung, dass jeglicher Alkoholkonsum schädlich ist und vermieden werden sollte, bis hin zu einer liberaleren Ansicht, dass die Politik die ausbeuterischen Tendenzen kommerzieller Akteur*innen einschränken sollte, während die Menschen selbst entscheiden können, wie viel Alkohol sie trinken. Und wie bei der Abstinenz können diese Ansichten manchmal im Widerspruch zueinander stehen.

Wenn der Begriff »Neo-Abstinente« nur dazu dient, Aktivist*innen als Kindermädchen zu bezeichnen, ist er eine grobe Vereinfachung. Wenn er sich jedoch auf die Gesamtheit der gemeinsamen Prinzipien und politischen Positionen bezieht oder Fragen nach den zugrunde liegenden Werten aufwirft, die die Befürwortung der Alkoholkontrolle motivieren, ist er keine völlig falsche Bezeichnung. Die Frage für die Vertreter*innen der modernen Alkoholkontrolle ist vielleicht nicht, ob sie die Erb*innen der Abstinenzbewegung sind, sondern welcher Version der Abstinenz sie am ehesten ähneln.

Porträt von Dr. James Nicholls.

Dr. James Nicholls, Dozent für Gesundheitswesen an der Universität Stirling. Zuvor war er Forschungsleiter bei Alcohol Change UK und Vorstandsvorsitzender der Transform Drug Policy Foundation. Er ist Autor von »The Politics of Alcohol: A History of the Drink Question in England«.